Philosophie und Offenbarungsglaube
523
| Die Möglichkeit, zu glauben, ist heute in zahllosen Menschen verborgen. Nicht mehr durch 11
gegenwärtige Propheten findet dieser Glaube das ihm entsprechende Wort. Er ist zuerst in den
Einzelnen wirklich, aber in der Anonymität. Ihm hilft philosophisches Denken.
Unsere Grundfragen sind Fragen der Menschheit geworden. Die kirchliche Autorität bi-
blischen Offenbarungsglaubens tut mit ihren gegenwärtigen Gestalten immer weniger Men-
schen in ihrem Innersten genug. Sie wird nie die Menschen des Erdballs, nicht einmal die des
Abendlands einigen. Durch bald zwei Jahrtausende hat der kirchlich geformte christliche Of-
fenbarungsglaube nicht das Ethos der Wahrheit so zu verwirklichen vermocht, daß er durch
Handlungen, Lebenspraxis, Denken, persönliche Gestalten Überzeugungskraft für alle
gewonnen hätte.
Nur in der Freiheit können Menschen einmütig werden. Wir suchen heute den Boden, auf
dem Menschen aus allen Glaubensherkünften sich über die Weithin sinnvoll begegnen könn-
ten, bereit, ihre je eigene geschichtliche Überlieferung neu anzueignen, zu reinigen, zu verwan-
deln, aber nicht preiszugeben. Der gemeinsame | Boden für die Vielfachheit des Glaubens wäre 12
allein die Klarheit der Denkungsart, die Wahrhaftigkeit und ein gemeinsames Grundwissen.
Erst diese ermöglichen die grenzenlose Kommunikation, in der die Glaubensursprünge ver-
möge ihres Ernstes einander anziehen.
Die heute allverbreitete Sprache der rationalen Aufgeklärtheit verbindet nicht. Sie macht
vielmehr beschränkt und unfrei. Sie liefert die Mittel des sophistischen Scheins, in dem der Be-
trugszustand der Welt sich erhält. Allein das unendlich fortschreitende, in jeden Horizont ein-
tretende, nie vollendete Aufklären macht frei.
Man behauptet, die moderne Wissenschaftwerde uns Menschen einigen. Sie ist in der Tat
für alle gültig, wird mit Recht allgemein anerkannt. Doch sie verbindet die Menschen nur in
ihrem Verstand, nicht als sie selbst. Sie bringt mit der Einmütigkeit in ihrem Erkennen nicht
auch schon den gemeinsamen Boden des Lebens selber.
Das wissenschaftliche Wissen und das technische Können sind eine bewunderungswür-
dige, hinreißende und noch für den Widerstrebenden unumgängliche Sache. Aber diese ist in
ihren Fol\gen und ihrem Selbstverständnis zweideutig. Sie ist zur Gefahr für den Menschen 13
und für sein bloßes Dasein geworden. Ihre Helligkeit ist eine paradoxe Verdunkelung des We-
sentlichen. Aber auch aus diesem Dunkel, wie aus jedem früheren, vermag der Mensch, der
im Philosophieren eigentlich Mensch wird, zu seinem ewigen Ursprung zurückzufinden. In
ihm kann er sich gründen, wenn er in derZeit, mit der Geburt jedes Einzelnen, immer wieder
unter anderen Bedingungen, von neuem an fangen muß. Heute soll er seine Wissenschaft und
Technik meistern.
Diese Schrift möchte aus dem Ursprung philosophischen Glaubens sprechen, der lebendig
ist, seitdem Menschen denken. Sie möchte bezeugen, daß der Verlust des Offenbarungsglau-
bens keineswegs die immer neue Aneignung des unersetzlichen Wahrheitsgehaltes der Bibel
ausschließt. Vielmehr steht in der Situation unserer Tage die Verwandlung der biblischen Re-
ligion für uns Abendländer, der anderen Religionen für deren Gläubige, der Philosophie für
alle, fast greifbar vor Augen.
523
| Die Möglichkeit, zu glauben, ist heute in zahllosen Menschen verborgen. Nicht mehr durch 11
gegenwärtige Propheten findet dieser Glaube das ihm entsprechende Wort. Er ist zuerst in den
Einzelnen wirklich, aber in der Anonymität. Ihm hilft philosophisches Denken.
Unsere Grundfragen sind Fragen der Menschheit geworden. Die kirchliche Autorität bi-
blischen Offenbarungsglaubens tut mit ihren gegenwärtigen Gestalten immer weniger Men-
schen in ihrem Innersten genug. Sie wird nie die Menschen des Erdballs, nicht einmal die des
Abendlands einigen. Durch bald zwei Jahrtausende hat der kirchlich geformte christliche Of-
fenbarungsglaube nicht das Ethos der Wahrheit so zu verwirklichen vermocht, daß er durch
Handlungen, Lebenspraxis, Denken, persönliche Gestalten Überzeugungskraft für alle
gewonnen hätte.
Nur in der Freiheit können Menschen einmütig werden. Wir suchen heute den Boden, auf
dem Menschen aus allen Glaubensherkünften sich über die Weithin sinnvoll begegnen könn-
ten, bereit, ihre je eigene geschichtliche Überlieferung neu anzueignen, zu reinigen, zu verwan-
deln, aber nicht preiszugeben. Der gemeinsame | Boden für die Vielfachheit des Glaubens wäre 12
allein die Klarheit der Denkungsart, die Wahrhaftigkeit und ein gemeinsames Grundwissen.
Erst diese ermöglichen die grenzenlose Kommunikation, in der die Glaubensursprünge ver-
möge ihres Ernstes einander anziehen.
Die heute allverbreitete Sprache der rationalen Aufgeklärtheit verbindet nicht. Sie macht
vielmehr beschränkt und unfrei. Sie liefert die Mittel des sophistischen Scheins, in dem der Be-
trugszustand der Welt sich erhält. Allein das unendlich fortschreitende, in jeden Horizont ein-
tretende, nie vollendete Aufklären macht frei.
Man behauptet, die moderne Wissenschaftwerde uns Menschen einigen. Sie ist in der Tat
für alle gültig, wird mit Recht allgemein anerkannt. Doch sie verbindet die Menschen nur in
ihrem Verstand, nicht als sie selbst. Sie bringt mit der Einmütigkeit in ihrem Erkennen nicht
auch schon den gemeinsamen Boden des Lebens selber.
Das wissenschaftliche Wissen und das technische Können sind eine bewunderungswür-
dige, hinreißende und noch für den Widerstrebenden unumgängliche Sache. Aber diese ist in
ihren Fol\gen und ihrem Selbstverständnis zweideutig. Sie ist zur Gefahr für den Menschen 13
und für sein bloßes Dasein geworden. Ihre Helligkeit ist eine paradoxe Verdunkelung des We-
sentlichen. Aber auch aus diesem Dunkel, wie aus jedem früheren, vermag der Mensch, der
im Philosophieren eigentlich Mensch wird, zu seinem ewigen Ursprung zurückzufinden. In
ihm kann er sich gründen, wenn er in derZeit, mit der Geburt jedes Einzelnen, immer wieder
unter anderen Bedingungen, von neuem an fangen muß. Heute soll er seine Wissenschaft und
Technik meistern.
Diese Schrift möchte aus dem Ursprung philosophischen Glaubens sprechen, der lebendig
ist, seitdem Menschen denken. Sie möchte bezeugen, daß der Verlust des Offenbarungsglau-
bens keineswegs die immer neue Aneignung des unersetzlichen Wahrheitsgehaltes der Bibel
ausschließt. Vielmehr steht in der Situation unserer Tage die Verwandlung der biblischen Re-
ligion für uns Abendländer, der anderen Religionen für deren Gläubige, der Philosophie für
alle, fast greifbar vor Augen.