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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0643
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Philosophie und Offenbarungsglaube

nur geklagt, sondern die angeklagt wird. Die Wahrhaftigkeit im Anerkennen des Tat-
sächlichen gewinnt eine hohe Steigerung, und ob sie je zu solcher Wahrhaftigkeit ge-
steigert wäre ohne die Chiffer des persönlichen Gottes, würde ich bezweifeln.

64 | Zahrnt
Durch das, was Sie eben gesagt haben, wie durch Ihr ganzes Buch, klingt die Sorge - ich
muß sagen, die berechtigte Sorge -, Gott möchte durch den Offenbarungsglauben in die
Endlichkeit hineingezogen und so zu einem Seienden unter Seiendem werden, womög-
lich zu einem Etwas, über das die Kirche oder der einzelne Gläubige im Wissen verfügt.
Diese Sorge ist auch die Sorge der ganzen Bibel. Dagegen haben die alttestamentlichen
Propheten gekämpft, dagegen hat vor allem Jesus von Nazareth gekämpft. Umgekehrt
aber droht durch die Sprache der Chiffern verflüchtigt zu werden, was nun einmal für
die ganze biblische Offenbarung charakteristisch ist, nämlich daß es sich hier um eine
konkrete Geschichte handelt. Diese konkrete Geschichte ist die konkrete Geschichte
der Zuwendung Gottes zu der Welt und dem Menschen. Gott handelt an der Welt, Gott
fragt nach dem Menschen und redet zu ihm. Gewiß, Sie können sich auf das Zweite Ge-
bot berufen: »Du sollst dir von Gott kein Bild oder Gleichnis machen«,682 aber diesem
65 Zweiten Gebot geht das Erste voran »Ich bin der Herr, | dein Gott, der dich aus Ägyp-
tenland geführt hat«.683 Wenn die israelitischen Propheten für etwas gekämpft haben,
dann für diese Einzigartigkeit Gottes, und wenn es im Alten Testament Entwicklung gibt -
und es gibt ganz sicher Entwicklung in ihm -, dann besteht sie in der immer schärferen
Herausarbeitung dieses einen, einzigartigen, in der ganzen Geschichte handelnden
Gottes. Das geht gewiß nicht ohne Anthropomorphismen ab. Aber könnte es nicht
sein, daß ein kräftiger Anthropomorphismus der Wirklichkeit Gottes gerechter wird als
eine abstrakte Chiffer? Und weiter: Könnte es nicht gerade Anthropomorphismus sein,
Gott in seinem konkreten Handeln eingrenzen zu wollen?
Jaspers
Ich stimme Ihnen in einem zu. Die Chiffer des persönlichen Gottes kann nur Gewicht
haben als geschichtliche Chiffer. Was wäre Athen ohne die Göttin dieser Polis, ohne
Athene, und was Athene ohne diese Polis? Und was Zeus, der eine Gott, der Herrscher
66 aller Götter, wenn nicht zugleich die Hellenen wären, die in ihm ihre Ein | heit spürten?
Was wäre Jahwe ohne das Volk Israel und was das Volk ohne ihn? Erst später ist an bei-
den Stellen der antiken Welt der Menschheitsgott zur Chiffer geworden für alle, und
doch wirkte noch in diesen Einheitsvorstellungen der Gottheit eine je eigentümliche
Weise mit, solange der geschichtliche Boden nicht ganz verloren ging. Aber nicht das
Chiffern-Sein macht blaß, sondern der Verlust der Geschichte. Der persönliche Gott,
meinen Sie, ist als kräftiger Anthropomorphismus besser als eine blasse Chiffer. Ich
 
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