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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0656
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Philosophie und Offenbarungsglaube

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Jaspers
Ich bin überzeugt, daß philosophischer Glaube und Offenbarungsglaube Menschen
nicht zu Feinden machen müssen, sondern daß sie sich treffen können. Mehr noch.
Ich hoffe gegen allen historischen Augenschein, daß sie einen Bund ein | gehen kön-
nen. Völlig einmütig können sie sein in folgendem: in der Wissenschaftlichkeit, im
Wissen-wollen, in der Klarheit darüber, was man wissen und nicht wissen kann, in der
Anerkennung der spezifisch-modernen, erst von uns geklärten Wissenschaftlichkeit.
Dann: in der Verwirklichung der Einsicht in die Grenzen der wissenschaftlichen Er-
kenntnisse, aber nicht im allgemeinen, sondern in der jeweiligen konkreten geistigen
Situation, die durch die jeweils erreichte Erkenntnis gewonnen ist. Dann: in der Ab-
wehr von Wissenschaftsaberglauben und von Wissenschaftsverachtung und schließ-
lich im Willen zu jeder Weise der Wahrheit. Einmütig können wir werden, aber im Be-
reiche nur eines Teiles christlichen Glaubens, im Willen zur Weltverwirklichung, in
der Offenheit für die Glaubensmöglichkeiten, in der Lebenspraxis eines weltaufbau-
enden Wollens.
Nicht einmütig sind wir offensichtlich im Glauben, sofern er sich ausspricht. Den
Bund zwischen der Mannigfaltigkeit der Glaubensgestalten sehen wir zur Zeit noch
nicht mächtig. Es war in höchster Not, in der Zeit des Nationalsozialismus, zwischen
einzelnen Katholiken, Pro |testanten, Juden dieser Bund da. Was hier zum Bunde zwi-
schen Einzelnen wurde, ist verheißungsvoll für die Zukunft, aber zunächst heute - so
scheint es - wieder ganz verlassen. Was bleibt oder was ist für uns das eigentlich Wirk-
liche, wenn wir uns im Bekenntnis wie im Nichtbekenntnis nicht verstehen? Das, was
wir in der Lebenspraxis wirklich tun, darin können wir verbündet sein, darin uns
gleichsam erproben, nicht aber in den Glaubenspositionen in ihrer Isoliertheit. Auf
die absolute Feststellung dem anderen gegenüber dürfen wir - wie mir scheint - ver-
zichten. Vielleicht ist der zuverlässigste Bund dort, wo er in der Tat der Verwirklichung
besteht und nicht in dem Inhalt eines Gesagten. Die Sprache und der Inhalt des Glau-
bens brauchen nicht dasselbe zu sein. Dürfen wir nicht auf den Augenblick warten und
für ihn bereit bleiben, in dem wir durch die kommunikative Situation, auf die es doch
entscheidend ankommt, den anderen auch in seinem Glauben verstehen, ohne ihm
darin zu folgen, aber uns gerade dadurch um so mehr mit ihm praktisch in den Bund
zu setzen, der uns vereinigt gegen alle Nichtigkeiten, die es als mächtige Gewalten in
der Welt | physisch und psychologisch fast übermächtig gibt? Ist es eine Utopie, daß
so etwas möglich scheint, was doch so innig zu wünschen ist? Bleiben wir auf dem
Wege und schließen wir uns nicht ab! Bekenntnis ja, aber für sich selber, nicht für die
anderen, nicht zur Konstituierung einer organisierten Gemeinschaft, die sich dadurch
von anderen abgrenzt und sie abwehrt, nicht als Anspruch anderen gegenüber.
Der gemeinsame Grund aber in diesem Bunde wird immer die Bibel sein, so daß
ein Umgang mit der Bibel stattfindet und alle, die mit ihr umgehen, vereinigen muß.

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