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Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 25 93

Mysterien“ verstand Creuzer als orgiastische Entfesselung des Trieblebens und,
ganz romantisch, als enthusiastische Aufhebung des individuell-endlichen
Lebens im „Unendlichen“. Kam die Vorliebe für die Dionysos-Mysterien der
romantischen Neigung zum Geheimnisvollen und Religiösen entgegen, so die
besondere Betonung der orientalischen Züge des Dionysos - eine der verschie-
denen Herkunftssagen läßt ihn aus Indien über den Orient nach Griechenland
wandern - dem romantischen Kult des Orients und nicht zuletzt Indiens.
Schelling mit seiner im Nachklang der Romantik entstandenen Philosophie der
Mythologie und seiner Philosophie der Offenbarung setzte Creuzers romantische
Dionysos-Mythologie spekulativ fort, indem er den Mythos noch aus idealisti-
scher Perspektive als Vergeistigungsprozess darstellte. N. steht in der roman-
tisch-„mystischen“ Strömung, die von Creuzer ausging. Auch in N.s Basler
Umfeld, bei Johann Jakob Bachofen (1815-1887), spielte die Dionysos-Mytholo-
gie dieses Zuschnitts eine Rolle, besonders in folgenden Werken Bachofens:
Die Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie (1867) GW VII, S. 96-198;
Mutterrecht (1861), § 106-118, GW III, S. 566-654; Versuch über die Gräbersym-
bolik der Alten (1859; von N. zusammen mit Creuzers Werk am 18.6.1871 aus der
Universitätsbibliothek Basel entliehen), GW IV, S. 238 ff.; Die Sage von Tanaquil
(1870), GW VI, S. 98 ff.
Plutarch hatte die polare Konstellation von Apollon und Dionysos am Apol-
lon-Tempel in Delphi mit Berufung auf schon vorhandene mythologisch-theo-
logische Ausdeutungen noch in einen kosmologischen Bezugsrahmen gestellt.
In der Moderne wurden Apollon und Dionysos als Kunstprinzipien allegori-
siert - N. spricht von „Kunstgottheiten“ (25, 13). Hier spielt die für den Dich-
tungsprozeß seit der Antike als konstitutiv geltende Polarität von ingenium,
physis (= Dionysos) und ars, techne (= Apollon) herein. Friedrich Schlegel setzt
in seinem an der Schwelle der Romantik verfaßten Aufsatz Über das Studium
der griechischen Poesie (1795/96) die Trunkenheit des Dionysos der Besonnen-
heit des Apollo entgegen, und dies in einem poetologischen Kontext: im Hin-
blick auf Sophokles, der schon in der Antike (so in der Stillehre des Dionysios
von Halikarnassos, die im 18. Jahrhundert neu beachtet wurde und die auch
N. heranzog) als dichterischer Repräsentant einer harmonisch ausgewogenen
Mitte galt. „Im Gemüte des Sophokles“, schreibt F. Schlegel, „war die göttliche
Trunkenheit des Dionysos, die tiefe Empfindsamkeit der Athene und die leise
Besonnenheit des Apollo gleichmäßig verschmolzen“ (Friedrich Schlegel, Über
das Studium der griechischen Poesie, in: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe,
hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans
Eichner, I. Band: Studien des klassischen Altertums, eingel. und hg. von Ernst
Behler, a.a.O. 1979, S. 298). Grundsätzlich auf den poetischen Produktionspro-
zeß bezieht Schelling den nunmehr bereits begrifflich ausformulierten Gegen-
 
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