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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 86-87 265

„Jemand der sagte, der Geist wohne wie in den Lebewesen auch in der Natur
als Prinzip des Kosmos und aller Ordnung, der erschien wie ein Nüchterner
gegenüber den Früheren, die ins Ungefähre geredet haben. Daß nun Anaxago-
ras diese Lehre ganz klar vertreten hat, wissen wir“ (voüv öp tu; cintüv EVEivai,
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ncujpc;, oiov vpcpcüv scpävp nap’ siKfj AsyovTaq Tovq npÖTspov. cpavspcoq psv
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87, 9-12 So lange der einzige Ordner und Walter des Alls, der Nous, noch vom
künstlerischen Schaffen ausgeschlossen war, war noch alles in einem chaotischen
Urbrei beisammen] Diese Deutung des Nous als einer nicht nur geistigen, son-
dern künstlerischen Schaffenskraft führt N. in der nur wenig später entstande-
nen Abhandlung Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen weiter
aus, nunmehr jedoch mit einer anderen Wertung: Sie dient ihm nicht mehr
als ein Beispiel fragwürdiger Rationalität, sondern elementarer Produktivität,
wobei Züge aus Platons Demiurgen-Mythos im Timaios implementiert werden.
Entsprechend ändert sich auch die Einschätzung des Euripides. „Der Anaxago-
rische Geist ist ein Künstler“, schreibt N. in dieser Abhandlung, „und zwar das
gewaltigste Genie der Mechanik und Baukunst, mit den einfachsten Mitteln die
großartigsten Formen und Bahnen und gleichsam eine bewegliche Architektur
schaffend, aber immerhin [in der alten Wortbedeutung: fortwährend] aus jener
irrationalen Willkür, die in der Tiefe des Künstlers liegt. Es ist als ob Anaxago-
ras auf Phidias deutete und Angesichts des ungeheuren Künstlerwerks, des
Kosmos, ebenso wie vor dem Parthenon uns zuriefe [...] In der abgeschlossnen
Gemeinde der athenischen Anaxagoreer war die Mythologie des Volkes nur
noch als eine symbolische Sprache erlaubt; alle Mythen, alle Götter, alle
Heroen galten hier nur als Hieroglyphen der Naturdeutung, und selbst das
homerische Epos sollte der kanonische Gesang vom Walten des Nous und von
den Kämpfen und Gesetzen der Physis sein. Hier und da drang ein Ton aus
dieser Gesellschaft erhabener Freigeister in das Volk; und besonders der
große [!] und jederzeit verwegene, auf Neues sinnende Euripides wagte man-
cherlei durch die tragische Maske laut werden zu lassen, was der Masse wie
ein Pfeil durch die Sinne drang und von dem sie sich nur durch possenhafte
Karrikaturen und lächerliche Umdeutungen befreite“ (KSA 1, 869, 8-870, 3).
Ganz im Gegensatz zu GT, wo N. noch die von Aristophanes in den Frö-
schen fabrizierte (und in A. W. Schlegels negativer Wertung des Euripides fort-
geschriebene) „possenhafte“ Karikatur des Euripides übernimmt, wird dieser
hier als der „große“ Euripides gewürdigt und bereits der „Gesellschaft erhabe-
ner Freigeister“ (869, 32) zugerechnet, als deren Leitfigur Anaxagoras erscheint.
Mit dem positiven Begriff „Freigeister“ stößt N. bereits zu der mit MA („Ein
 
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