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Stellenkommentar GT 14, KSA 1, S. 94-95 293

sie einging (KGW II 3, 7-10), um besonders am Beispiel des Sophokleischen
König Ödipus darzulegen, wie wenig sie der antiken Tragödie und dem Tragi-
schen angemessen sei. „Überhaupt“, so bemerkt er, „ist jenes Gleichgewicht
zwischen Schicksal und Charakter, Strafe und Schuld [wie in der Lehre von
der poetischen Gerechtigkeit] kein aesthetischer, sondern ein moralischer
Standpunkt, dazu noch ein menschlich beschränkter Rechtsstandpunkt [...]:
der Zuschauer wird aufgefordert zu der Strafe, die der Dichter für den Missethä-
ter vorschlägt, sein Placet zu applaudiren“ (KGW II 3, 8). In der Lehre von der
poetischen Gerechtigkeit verrate sich „das Sicherheitsgefühl der Schnecke, die
in ihrem Hause sitzt und es überallhin mitschleppt: die Alltäglichkeit und die
Ruhe des Philisters schließt die tragische Muse aus“ (KGW II 3, 9). N.s Fazit
lautet: „Die Unverdientheit des Schicksals im Individuum schien ihnen
[den Griechen] tragisch an Oedipus. Das Räthsel im Schicksal des Individuum,
die bewußtlose Schuld, das unverdiente Leiden, kurz das wahrhaft Schreckli-
che des Menschenlebens war ihre tragische Muse. Hier wies alles auf eine
transscendente höhere Weltordnung: das Leben erschien nicht mehr lebens-
werth. Die Tragödie ist pessimistisch“ (KGW II 3, 10).
Dem deus ex machina, den N. in GT 12 den „berüchtigten deus ex machina“
nennt (86, 29), wies er an dieser früheren Stelle noch eine ganz andere Funk-
tion zu. Anders als mit den beiden tendenziösen Auslegungen notiert N. Über-
legungen zum deus ex machina für seine Tragödien-Vorlesung vom Sommerse-
mester 1870 (KGW II 3, 43 f.): „Der deus ex machina schon bei Sophocles;
Philoctet. Hier ein Mittel der tiefsten Ergebung u. Resignation gegen das Göttli-
che. Eine lang gesponnene Intrigue ist im Stande aussichtslos zu verlaufen;
der Dichter verhöhnt den menschlichen Witz, durch das Erscheinen des Gottes.
Bei Euripides ist es die Absicht den Knoten so zu schürzen, daß er unzerreißbar
ist; jetzt kann nur ein Wunder helfen. Das Wunder ist ein stärkerer Effekt
als die psychologische Lösung, nec deus intersit nisi dignus vindice nodus.
Aristoteles sagt, die Göttermaschine sei keineswegs unstatthaft: der Mythus
gebot Erscheinungen sehr häufig“. N. schließt mit der problematischen Bemer-
kung: „Zuletzt ist Eur. der deus ex m. ein sicheres Mittel Glück und Unglück
auf die Handelnden nach Verdienst auszutheilen“.
95, 4-10 Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen Bühnenwelt
gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der ganze musikalisch-dionysische
Untergrund der Tragödie? Als etwas Zufälliges, als eine auch wohl zu missende
Reminiscenz an den Ursprung der Tragödie; während wir doch eingesehen
haben, dass der Chor nur als Ursache der Tragödie und des Tragischen über-
haupt verstanden werden kann.] Der letzte Satz ergibt den im Kontext erforderli-
chen Sinn nur, wenn in dem Passus „dass der Chor nur als Ursache“ das
Wort „nur“ nicht der „Ursache“, sondern dem (stark zu betonenden) „Chor“
 
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