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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0036
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Überblickskommentar 17

charakterliche Verfall des künstlerischen Typus zum Lügner, seine Unfähigkeit
zum Gestalten organischer Ganzheit und sein Sich-Verlieren im Detail ebenso
wie seine neue und als aufgesetzt empfundene religiöse Inbrunst. Die Schriften
von 1888 präsentieren, wie Enrico Müller 2010 in einem Vortrag ausgeführt
hat, „personale Großgenealogien", die sich am Muster der dritten Abhandlung
der Genealogie der Moral orientieren, nämlich danach fragen, was für
bestimmte Personen und Personengruppen asketische Ideale bedeuten. Im Fall
Wagner und in Nietzsche contra Wagner wird mit Wagner der Künstler dieser
Befragung unterzogen, in der Götzen-Dämmerung Sokrates, die Philosophen
und allgemein die „Verbesserer der Menschheit", im Antichrist Jesus und Pau-
lus, in Ecce homo schließlich N. als Überwinder der asketischen Ideale selbst.
Für den von Wagner repräsentierten Künstlertypus ist das Urteil dieser Perso-
nal-Genealogie dann niederschmetternd: Es gelingt ihm mitnichten, die asketi-
schen Ideale zu überwinden oder zu transformieren, vielmehr macht er sich
zu ihrem Anwalt und Propagandisten, wodurch die Kunst nach N. die Werte
des Lebens selbst verrät.
Wagners Musik erscheint damit als eine reine Dekadenz-Symptomatik:
„Wagner hat lauter Krankheitsgeschichten in Musik gesetzt, lauter interessante
Fälle, lauter ganz moderne Typen der Degenerescenz, die uns gerade deshalb
verständlich sind. Nichts ist von den jetzigen Ärzten und Physiologen besser
studirt als der hysterisch-hypnotische Typus der Wagnerschen Heldin: Wagner
ist hier Kenner, er ist naturwahr bis zum Widerlichen darin — seine Musik ist
vor allem eine psychologisch-physiologische Analyse kranker Zustände" (NL
1888, KSA 13, 15[99], 465, 3-10). N. zögert deshalb nicht, zu behaupten, „die
Principien und Praktiken Wagner's sind allesamt zurückführbar auf physiolo-
gische Nothstände: sie sind deren Ausdruck (,Hysterismus' als Musik)" (NL
1888, KSA 13, 16[75], 510, 27-29). Nicht nur die Ursache, sondern auch die Folge
Wagners ist die Krankheit. „Er macht Alles krank, woran er rührt, — er hat
die Musik krank gemacht." (WA 5, KSA 6, 21, 16 f.).

5 Stellenwert von Der Fall Wagner in N.s Schaffen
WA ist eine Gelegenheitsschrift, die N. sicher nicht als eines seiner Hauptwerke
angesehen wissen wollte. Dennoch widmet er dem Werk in Ecce homo ein
Kapitel, das länger ist als die dortigen Retraktationen von Jenseits von Gut und
Böse, Zur Genealogie der Moral und Götzen-Dämmerung zusammengenommen.
Überdies wird WA in EH als einziges Werk nicht in der Chronologie der Entste-
hung und der Publikation behandelt, sondern nach der später fertiggestellten
und zur Publikation vorbereiteten Götzen-Dämmerung an die allerletzte Stelle
 
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