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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0041
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22 Der Fall Wagner

fen 1888 bemerkbar machen. Diese Selbstvermarktungstendenzen korrelieren
im Fall von WA mit der tatsächlichen öffentlichen Aufmerksamkeit, die N. mit
den vorangegangenen Schriften fast völlig versagt geblieben war. Entspre-
chend interagiert N. jetzt erstmals auch mit seiner eigenen Rezeption — indem
er nicht nur die beiden Briefe für den Kunstwart schreibt, sondern die dort
gegebene Liste mit einschlägigen Anti-Wagner-Stellen aus früheren zu einer
eigenen Werk-Collage, Nietzsche contra Wagner, umgestaltet.
Die Nachwirkung von N.s Wagner-Kritik war über die unmittelbare Wir-
kung hinaus unabsehbar groß. Das Stichwort der decadence wurde zu einem
Leitbegriff der zeitgenössischen Kulturkritik. So sehr sich N. zur Entstehungs-
zeit von WA in einen wagnerkritischen Zeitkontext einfügte, so sehr verband
sich doch gerade mit seinem Namen eine radikale Abkehr von Wagners Kunst-
Paradigma, mit der man sich nicht nur im Umfeld von Bayreuth schwertat
(dazu Ferrari Zumbini 1990). Exemplarisch seien als dankbare Inspirations-
empfänger aus WA nur Robert Musil, Thomas Mann und Theodor W. Adorno
wenigstens genannt. Musil verarbeitete seine einschlägigen Lektüren direkt in
seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (vgl. Neymeyr 2005, 107-200),
während Thomas Mann in Leiden und Größe Richard Wagners (1933) „die
unsterbliche Wagnerkritik Nietzsches [...] immer als einen Panegyrikus mit
umgekehrtem Vorzeichen, als eine andere Form der Verherrlichung empfun-
den" hat: „Sie war Liebeshaß, Selbstkasteiung" (Mann 1990, 9, 373). Dennoch
wollte er ihr gerade als Kritik verbunden bleiben. Auch für Adorno gilt dies,
obwohl er in seinem Versuch über Wagner (1952) herausstreicht, N. habe „Wag-
ner noch mit den Ohren des Biedermeier gehört, als er ihn formlos fand"
(Adorno 1980, 13, 52 f.).
Mit der historischen Distanz zu Wagner ist auch die Provokationskraft von
WA viel stärker verblasst als die anderer Spätschriften N.s. So überwiegen
heute — abgesehen von manchen allerdings publikumswirksamen Ausnahmen
wie Schlaffer 2007 (dazu das Nötige bei Sommer 2008e, 98-103) — die nüch-
tern wissenschaftlichen Annäherungen an WA (exemplarisch qualitätvoll ist
Müller-Lauter 1999b, 1-23).
 
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