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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0048
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Stellenkommentar WA Vorwort, KSA 6, S. 11 29

Krug den Klavierauszug von Wagners Tristan durchgearbeitet hatte. Mit Antritt
seiner Basler Professur besuchte N. von Pfingsten 1869 an Wagner und seine
(künftige) Frau in Tribschen am Vierwaldstätter See sehr häufig und wurde
geradezu ein Teil von Wagners Familie. Wie Wagner begeistert von Schopen-
hauers Philosophie, stellte N. in GT seine Auffassung dar, dass Wagners
Gesamtkunstwerk die Erneuerung der griechischen Tragödie und exemplarisch
für die dringend erforderliche Kulturerneuerung sei. Trotz der während ein
paar Jahren sehr innigen Beziehung zu den Wagners dokumentieren Cosimas
Tagebücher schon früh gewisse Irritationen, so beispielsweise am 11. Mai 1871,
als ihr zugetragen wurde, dass N. seinen Basler Homer-Vortrag seiner Schwes-
ter „mit demselben Gedicht" gewidmet habe, das er auch in der Widmung an
sie verwendete: „Ich muß zuerst darüber lachen, dann aber, mit R[ichard]
darüber sprechend, hier einen bedenklichen Zug, wie eine Sucht des Verrats,
gleichsam um sich gegen einen großen Eindruck [sc. nämlich denjenigen Wag-
ners auf N.] zu rächen, erkennen." (C. Wagner 1988, 1, 387) 1872 geben die
Wagners den Haushalt in Tribschen auf, aber N. bleibt zunächst auch — wie
UB IV WB von 1876 zeigt — dem Bayreuther Festspielhaus-Projekt treu. Zwar
verließ N. die Bayreuther Festspiele während der Proben; jedoch dürfte dies
entgegen seiner eigenen Stilisierung mehr mit seinem physischen Zustand als
mit einer bereits fundamentalen Entfremdung von Wagner zusammengehan-
gen haben. In Sorrent kam es Ende Oktober 1876 zu einer letzten persönlichen
Begegnung mit Wagner. Rückblickend begründete N. seinen Bruch mit Wagner
mit dessen Parsifal, den er Anfang 1878 von Wagner dediziert bekam, und der
N. als Rückfall ins Christentum erschien. Allerdings war N. Wagners Beschäfti-
gung mit dem Parsifal-Stoff längst bekannt (vgl. NK KSA 6, 327, 16-25).
Der Brief, den N. anlässlich von Wagners Tod am 21. 02. 1883 an Malwida
von Meysenbug schrieb, legt nahe, dass es sich bei der „tödtliche[n] Beleidi-
gung" (vgl. N. an Overbeck, 22. 02. 1883, KSB 6, Nr. 384, S. 337, Z. 29) nicht
etwa um eine Wagnersche Indiskretion im Blick auf N.s Sexualleben gehandelt
hat (so z. B. Vogel 1966, 304 f.; dagegen Borchmeyer 1993, 22), sondern viel-
mehr um Wagners Hinwendung zum Christentum: „W. hat mich auf eine tödt-
liche Weise beleidigt [...] — sein langsames Zurückgehn und -Schleichen zum
Christenthum und zur Kirche habe ich als einen persönlichen Schimpf für mich
empfunden" (KSB 6, Nr. 382, S. 335, Z. 21-25); „Kreuz, Tod und Gruft" bei Wag-
ner haben N. allerdings schon ganz früh fasziniert — siehe N. an Erwin Rohde,
08. 10. 1868, KSB 2, Nr. 591, S. 322, Z. 53, überdies NK KSA 6, 431, 29-432, 1 und
Winteler 2011). Dennoch äußert N. seine Kritik an Wagner in seinen Werken bis
in die achtziger Jahre hinein nicht direkt; erst spät geht er zu offener Polemik
über. Dass es für N. nicht nur „ein Schicksal" war, „Wagnern den Rücken zu
kehren" (11, 5 f.), sondern auch zu seinem Schicksal gehörte, eine Weile an
 
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