Stellenkommentar WA Vorwort, KSA 6, S. 11 31
Weltgeschichte dann auch in der Figur der Selbstüberwindung enggeführt:
„Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung." (EH Warum ich so
weise bin 8, KSA 6, 276, 5 f.) Noch deutlicher wird er in EH Warum ich ein
Schicksal bin 3, KSA 6, 367, 22-25: „Die Selbstüberwindung der Moral aus
Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz —
in mich — das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra."
Der „Moralist" erscheint an dieser Stelle wie in 11, 10-13 als Sachwalter
der alten, lebensverneinenden Moral; in sein Repertoire gehört gemeinhin die
Losung der Selbstüberwindung (zu einem moralisch besseren Dasein). Diese
Losung wird hier unterminiert. Der Terminus „Moralist" ist hier wie häufig
beim späten N. negativ konnotiert (vgl. z. B. AC 11, KSA 6, 177, 7); der Ausdruck
bezieht sich nicht auf die von N. hochgeschätzten französischen „Moralisten"
des 17. und 18. Jahrhunderts, die keineswegs die alte Moral vertraten, sondern
skeptisch-pessimistisch die „mores", die Sitten der Menschen analysierten. Zur
Selbstüberwindung vgl. auch NK KSA 6, 129, 12-22.
11, 14-17 Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine Zeit
in sich zu überwinden, „zeitlos" zu werden. Womit also hat er seinen härtesten
Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist.] Die
Beschreibung des Philosophen, der sich unabhängig macht von der Zeit, in
der er lebt, schließt an die Bestimmung Platons an, dessen Sokrates bekannt-
lich seine überraschten Zuhörer belehrt, dass die Philosophen gerne sterben
würden oder es vorzögen, tot zu sein (Phaidon 64a-b). Die Philosophie habe
die Aufgabe, die Seele aus dem Gefängnis des Körpers zu befreien (Phaidon
82e und 83a) und sich damit von Zeitlichkeit und Zeitgebundenheit zu lösen.
Einerseits bleibt N. dieser Platonischen Konzeption von Philosophie trotz sei-
ner vielfältigen Ablösungsbemühungen von Platon seit seinem Frühwerk offen-
kundig verpflichtet. Auch als Stilist strebt N. nach Unvergänglichkeit (vgl. NK
KSA 6, 154, 21) und malt sich aus, angesichts des geringen Erfolges in der
Gegenwart „posthum geboren" zu werden (AC Vorwort, KSA 6, 167, 6). Aller-
dings glaubt N. weder an eine vom Körper unabhängige Seele (vgl. z. B. AC
14, KSA 6, 180 f.) noch an eine jenseitige Unsterblichkeit oder andere Formen
metaphysischer Ewigkeit, deren der Philosoph teilhaftig werden könnte. Ande-
rerseits definiert N. sein eigenes Verfahren bereits in den Unzeitgemässen
Betrachtungen mit ihrem sprechenden Titel in Opposition zu Zeitmoden und
Zeitgeschmack. Der Philosoph kehrt sich von dem ab, was in seiner Zeit als
wahr und gültig gilt — damit auch von der zeittypischen Moral, weswegen er
kein Moralist sein kann (vgl. 11, 10-13). Diese Rolle der Philosophen wird
gleich darauf entsprechend pathetisch umrissen: „Eine tiefe Entfremdung,
Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemässe" (12, 7-9) zeichnet
sie aus. Die demonstrative Distanzierung von der eigenen Zeit hindert N. aller-
Weltgeschichte dann auch in der Figur der Selbstüberwindung enggeführt:
„Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung." (EH Warum ich so
weise bin 8, KSA 6, 276, 5 f.) Noch deutlicher wird er in EH Warum ich ein
Schicksal bin 3, KSA 6, 367, 22-25: „Die Selbstüberwindung der Moral aus
Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz —
in mich — das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra."
Der „Moralist" erscheint an dieser Stelle wie in 11, 10-13 als Sachwalter
der alten, lebensverneinenden Moral; in sein Repertoire gehört gemeinhin die
Losung der Selbstüberwindung (zu einem moralisch besseren Dasein). Diese
Losung wird hier unterminiert. Der Terminus „Moralist" ist hier wie häufig
beim späten N. negativ konnotiert (vgl. z. B. AC 11, KSA 6, 177, 7); der Ausdruck
bezieht sich nicht auf die von N. hochgeschätzten französischen „Moralisten"
des 17. und 18. Jahrhunderts, die keineswegs die alte Moral vertraten, sondern
skeptisch-pessimistisch die „mores", die Sitten der Menschen analysierten. Zur
Selbstüberwindung vgl. auch NK KSA 6, 129, 12-22.
11, 14-17 Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine Zeit
in sich zu überwinden, „zeitlos" zu werden. Womit also hat er seinen härtesten
Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist.] Die
Beschreibung des Philosophen, der sich unabhängig macht von der Zeit, in
der er lebt, schließt an die Bestimmung Platons an, dessen Sokrates bekannt-
lich seine überraschten Zuhörer belehrt, dass die Philosophen gerne sterben
würden oder es vorzögen, tot zu sein (Phaidon 64a-b). Die Philosophie habe
die Aufgabe, die Seele aus dem Gefängnis des Körpers zu befreien (Phaidon
82e und 83a) und sich damit von Zeitlichkeit und Zeitgebundenheit zu lösen.
Einerseits bleibt N. dieser Platonischen Konzeption von Philosophie trotz sei-
ner vielfältigen Ablösungsbemühungen von Platon seit seinem Frühwerk offen-
kundig verpflichtet. Auch als Stilist strebt N. nach Unvergänglichkeit (vgl. NK
KSA 6, 154, 21) und malt sich aus, angesichts des geringen Erfolges in der
Gegenwart „posthum geboren" zu werden (AC Vorwort, KSA 6, 167, 6). Aller-
dings glaubt N. weder an eine vom Körper unabhängige Seele (vgl. z. B. AC
14, KSA 6, 180 f.) noch an eine jenseitige Unsterblichkeit oder andere Formen
metaphysischer Ewigkeit, deren der Philosoph teilhaftig werden könnte. Ande-
rerseits definiert N. sein eigenes Verfahren bereits in den Unzeitgemässen
Betrachtungen mit ihrem sprechenden Titel in Opposition zu Zeitmoden und
Zeitgeschmack. Der Philosoph kehrt sich von dem ab, was in seiner Zeit als
wahr und gültig gilt — damit auch von der zeittypischen Moral, weswegen er
kein Moralist sein kann (vgl. 11, 10-13). Diese Rolle der Philosophen wird
gleich darauf entsprechend pathetisch umrissen: „Eine tiefe Entfremdung,
Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemässe" (12, 7-9) zeichnet
sie aus. Die demonstrative Distanzierung von der eigenen Zeit hindert N. aller-