Stellenkommentar WA Vorwort, KSA 6, S. 11 33
duen als auch die daraus resultierende Kultur- und Kunstproduktion.
Decadence ist die Konsequenz eines schwindenden Willens zur Macht und als
solche keineswegs nur auf die Gegenwart beschränkt. Vielmehr wird zum Bei-
spiel in AC die Geschichte von Juden- und Christentum als ein Dekadenzphäno-
men abgehandelt. Mitte April 1886 charakterisiert N. in einem Brief an Carl
Fuchs im Anschluss an Bourget und anhand von Wagner decadence als Auflö-
sung in Einzelheiten: „Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über
die Melodie, der Augenblick über die Zeit" (KSB 7, Nr. 688, S. 177, Z. 36 f.). Er
vergisst nicht, hinzuzufügen: „es giebt auch an der decadence eine Unsumme
des Anziehendsten, Werthvollsten, Neuesten, Verehrungswürdigsten, — unsre
moderne Musik zum Beispiel" (ebd., S. 177, Z. 52-54). Zur decadence in der
Musikpraxis, namentlich bei Wagner in N.s Sicht ausführlich Schellong 1984.
Bei Wagner selbst bleibt der Begriff der decadence in den Gesprächen mit
Cosima auf die kulturkritische Kennzeichnung eines historisch-zyklischen Nie-
dergangs und der bedenklichen Hinfälligkeit der Gegenwart beschränkt, wird
also nicht auf den physiologischen Bereich ausgeweitet. Der Begriff kommt erst
nach der Entfremdung von N. in Cosimas Tagebüchern wiederholt vor (vgl. C.
Wagner 1988, 3, 80, 322, 478 u. 612; ebd., 4, 682 u. 753). Bereits 1849 findet
sich aber in den Notizen zur nicht ausgeführten Schrift Das Künstlertum der
Zukunft eine gerade im Hinblick auf die Geburt der Tragödie interessante Stelle,
in der Wagner eine umfassende decadence der Tragödie mit Euripides einset-
zen lässt: „Antike: — aus dem Chor heraus zum Individuum; Moderne: Shakes-
peare, — Anfang mit dem Individuum. // Geburt aus der musik [sie]: Äschylos. /
Decadence — Euripides." (Wagner 1885, 68 = Wagner [1911], 12, 278).
11, 22 f. „Gut und Böse" ist nur eine Spielart jenes Problems.] Die Konstitutions-
bedingungen des scheinbar absoluten moralischen Gegensatzes von „Gut und
Böse" untersucht N. in der „Ersten Abhandlung" der Genealogie der Moral
(KSA 5, 257-289). Die herrschend gewordene Unterscheidung von „Gut und
Böse" gilt ihm dabei als das Produkt einer Umkehrung im Wertungshaushalt
des Menschen, durch die die ursprünglich Schwachen an die Macht gekommen
sind (vgl. JGB 260, KSA 5, 211, 28-212, 3). Diese Umkehrung wiederum kann
als Ursache dessen erscheinen, was in WA Vorwort decadence heißt: „Hat man
sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man
auch die Moral, — man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und
Werthformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die grosse
Müdigkeit. Moral verneint das Leben..." (11, 23-12, 4) Damit hört das „Pro-
blem der decadence" (11, 22) auf, ein Zeitphänomen des späten 19. Jahrhun-
derts zu sein; es wird zur bestimmenden Signatur der letzten 2500 Jahre
europäischer Geschichte. Die Assoziation von Moral und Krankheit nimmt in
N.s späten Nachlassnotizen breiten Raum ein, vgl. z. B. NL 1888, KSA 13, 14[65],
duen als auch die daraus resultierende Kultur- und Kunstproduktion.
Decadence ist die Konsequenz eines schwindenden Willens zur Macht und als
solche keineswegs nur auf die Gegenwart beschränkt. Vielmehr wird zum Bei-
spiel in AC die Geschichte von Juden- und Christentum als ein Dekadenzphäno-
men abgehandelt. Mitte April 1886 charakterisiert N. in einem Brief an Carl
Fuchs im Anschluss an Bourget und anhand von Wagner decadence als Auflö-
sung in Einzelheiten: „Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über
die Melodie, der Augenblick über die Zeit" (KSB 7, Nr. 688, S. 177, Z. 36 f.). Er
vergisst nicht, hinzuzufügen: „es giebt auch an der decadence eine Unsumme
des Anziehendsten, Werthvollsten, Neuesten, Verehrungswürdigsten, — unsre
moderne Musik zum Beispiel" (ebd., S. 177, Z. 52-54). Zur decadence in der
Musikpraxis, namentlich bei Wagner in N.s Sicht ausführlich Schellong 1984.
Bei Wagner selbst bleibt der Begriff der decadence in den Gesprächen mit
Cosima auf die kulturkritische Kennzeichnung eines historisch-zyklischen Nie-
dergangs und der bedenklichen Hinfälligkeit der Gegenwart beschränkt, wird
also nicht auf den physiologischen Bereich ausgeweitet. Der Begriff kommt erst
nach der Entfremdung von N. in Cosimas Tagebüchern wiederholt vor (vgl. C.
Wagner 1988, 3, 80, 322, 478 u. 612; ebd., 4, 682 u. 753). Bereits 1849 findet
sich aber in den Notizen zur nicht ausgeführten Schrift Das Künstlertum der
Zukunft eine gerade im Hinblick auf die Geburt der Tragödie interessante Stelle,
in der Wagner eine umfassende decadence der Tragödie mit Euripides einset-
zen lässt: „Antike: — aus dem Chor heraus zum Individuum; Moderne: Shakes-
peare, — Anfang mit dem Individuum. // Geburt aus der musik [sie]: Äschylos. /
Decadence — Euripides." (Wagner 1885, 68 = Wagner [1911], 12, 278).
11, 22 f. „Gut und Böse" ist nur eine Spielart jenes Problems.] Die Konstitutions-
bedingungen des scheinbar absoluten moralischen Gegensatzes von „Gut und
Böse" untersucht N. in der „Ersten Abhandlung" der Genealogie der Moral
(KSA 5, 257-289). Die herrschend gewordene Unterscheidung von „Gut und
Böse" gilt ihm dabei als das Produkt einer Umkehrung im Wertungshaushalt
des Menschen, durch die die ursprünglich Schwachen an die Macht gekommen
sind (vgl. JGB 260, KSA 5, 211, 28-212, 3). Diese Umkehrung wiederum kann
als Ursache dessen erscheinen, was in WA Vorwort decadence heißt: „Hat man
sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man
auch die Moral, — man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und
Werthformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die grosse
Müdigkeit. Moral verneint das Leben..." (11, 23-12, 4) Damit hört das „Pro-
blem der decadence" (11, 22) auf, ein Zeitphänomen des späten 19. Jahrhun-
derts zu sein; es wird zur bestimmenden Signatur der letzten 2500 Jahre
europäischer Geschichte. Die Assoziation von Moral und Krankheit nimmt in
N.s späten Nachlassnotizen breiten Raum ein, vgl. z. B. NL 1888, KSA 13, 14[65],