Stellenkommentar WA Vorwort, KSA 6, S. 12 37
mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der äme
moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie ,wagnerisiren'".
12, 25-34 Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie
verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und
umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den Werth des Modernen
gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im Klaren ist. — Ich
verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt „ich hasse Wagner, aber
ich halte keine andre Musik mehr aus". Ich würde aber auch einen Philosophen
verstehn, der erklärte: „Wagner resümirt die Modernität. Es hilft nichts, man
muss erst Wagnerianer sein..."] Vgl. WA 5, KSA 6, 23, 4-7: „Gerade, weil Nichts
moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit
der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excel-
lence, der Cagliostro der Modernität."
Bereits in der Geburt der Tragödie finden sich Ansätze einer Kritik an der
„moderne[n] Welt" und am „moderne[n] Mensch[en]" (GT 18, KSA 1, 116, 11 u.
29), die N. dann im „Versuch einer Selbstkritik" von 1886 überbietet, indem er
den früher von ihm selbst als kulturelles Genesungsmittel empfohlenen, mit
Wagner beglaubigten „deutsche[n] Geist" zur Entstehungszeit von GT gerade
abdanken sieht, nämlich im „Uebergang zur Vermittelmässigung, zur Demo-
kratie und den ,modernen Ideen"' (GT Versuch einer Selbstkritik 6, KSA 1, 20,
18 f.). Mit den „modernen Ideen" assoziiert N. namentlich die Vorstellungen
politischer Gleichberechtigung und Freiheit, denen er bereits im Frühwerk
ablehnend gegenübersteht. Sich selbst attestiert N. im Rückblick von 1886
jedoch ebenfalls, sich mit Modernem, sprich mit Wagner kompromittiert zu
haben: „dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose griechische Pro-
blem, wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge
verdarb! Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu hoffen war, wo Alles
allzudeutlich auf ein Ende hinwies!" (ebd., 20, 7-11). N. beurteilt sich selbst
rückblickend also einerseits als noch nicht modernitätskritisch genug; anderer-
seits lässt er ein imaginäres Gegenüber den N. des Jahres 1872 auch fragen, ob
dessen „tiefe[r] Hass gegen Jetztzeit', ,Wirklichkeit' und ,moderne Ideen'" (GT
Versuch einer Selbstkritik 7, KSA 1, 21, 3 f.) nicht ebenfalls das Erzeugnis eines
modernen Nihilismus sei — und ob sich dieser „Hass" womöglich „weiter trei-
ben" lasse, als es in N.s früher „Artisten-Metaphysik" (ebd., 21, 4 f.) geschehen
sei. Gerade im Spätwerk sieht sich N. als Analytiker der Moderne: „Mein Werk
soll enthalten einen Gesamtüberblick über unser Jahrhundert, über die
ganze Modernität, über die erreichte ,Civilisation'" (NL 1887, KSA 12, 9[177],
440, 7-9 = KGW IX 6, W II 1, 12, 32-36). Im Nachlass fällt dabei auf, dass N.
die Moderne nicht bloß negativ sieht: „Gesammt-Einsicht: der zwei-
deutige Charakter unserer modernen Welt, — eben dieselben Symptome
mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der äme
moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie ,wagnerisiren'".
12, 25-34 Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie
verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und
umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den Werth des Modernen
gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im Klaren ist. — Ich
verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt „ich hasse Wagner, aber
ich halte keine andre Musik mehr aus". Ich würde aber auch einen Philosophen
verstehn, der erklärte: „Wagner resümirt die Modernität. Es hilft nichts, man
muss erst Wagnerianer sein..."] Vgl. WA 5, KSA 6, 23, 4-7: „Gerade, weil Nichts
moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit
der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excel-
lence, der Cagliostro der Modernität."
Bereits in der Geburt der Tragödie finden sich Ansätze einer Kritik an der
„moderne[n] Welt" und am „moderne[n] Mensch[en]" (GT 18, KSA 1, 116, 11 u.
29), die N. dann im „Versuch einer Selbstkritik" von 1886 überbietet, indem er
den früher von ihm selbst als kulturelles Genesungsmittel empfohlenen, mit
Wagner beglaubigten „deutsche[n] Geist" zur Entstehungszeit von GT gerade
abdanken sieht, nämlich im „Uebergang zur Vermittelmässigung, zur Demo-
kratie und den ,modernen Ideen"' (GT Versuch einer Selbstkritik 6, KSA 1, 20,
18 f.). Mit den „modernen Ideen" assoziiert N. namentlich die Vorstellungen
politischer Gleichberechtigung und Freiheit, denen er bereits im Frühwerk
ablehnend gegenübersteht. Sich selbst attestiert N. im Rückblick von 1886
jedoch ebenfalls, sich mit Modernem, sprich mit Wagner kompromittiert zu
haben: „dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose griechische Pro-
blem, wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge
verdarb! Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu hoffen war, wo Alles
allzudeutlich auf ein Ende hinwies!" (ebd., 20, 7-11). N. beurteilt sich selbst
rückblickend also einerseits als noch nicht modernitätskritisch genug; anderer-
seits lässt er ein imaginäres Gegenüber den N. des Jahres 1872 auch fragen, ob
dessen „tiefe[r] Hass gegen Jetztzeit', ,Wirklichkeit' und ,moderne Ideen'" (GT
Versuch einer Selbstkritik 7, KSA 1, 21, 3 f.) nicht ebenfalls das Erzeugnis eines
modernen Nihilismus sei — und ob sich dieser „Hass" womöglich „weiter trei-
ben" lasse, als es in N.s früher „Artisten-Metaphysik" (ebd., 21, 4 f.) geschehen
sei. Gerade im Spätwerk sieht sich N. als Analytiker der Moderne: „Mein Werk
soll enthalten einen Gesamtüberblick über unser Jahrhundert, über die
ganze Modernität, über die erreichte ,Civilisation'" (NL 1887, KSA 12, 9[177],
440, 7-9 = KGW IX 6, W II 1, 12, 32-36). Im Nachlass fällt dabei auf, dass N.
die Moderne nicht bloß negativ sieht: „Gesammt-Einsicht: der zwei-
deutige Charakter unserer modernen Welt, — eben dieselben Symptome