94 Der Fall Wagner
von Tönen ist das Vorspiel zum ,Tristan'. Es war, als sei eine Bombe in ein
grosses musikalisches Werk gefahren und habe alle Noten über- und unterein-
ander geworfen'. — Andre Giovanoly behauptete 1876 nach den Aufführungen
in Bayreuth: ,Der Wagnerismus ist das freiwillige Chaos.'" (Tappert 1877, 7,
vgl. zu „Tohubohu" [sic] ebd., 38).
24, 27 f. In der Sprache des Meisters geredet: Unendlichkeit, aber ohne Melo-
die.] Zur „unendlichen Melodie" siehe NK 14, 1 f. Mit dem Unendlichen pflegt
Wagner gern zu operieren, wenn er die Macht der Musik beschwört: „Das, was
die Musik ausspricht, ist ewig, unendlich und ideal; sie spricht nicht die Lei-
denschaft, die Liebe, die Sehnsucht dieses oder jenes Individuums in dieser
oder jener Lage aus, sondern die Leidenschaft, die Liebe, die Sehnsucht selbst,
und zwar in den unendlich mannigfaltigen Motivirungen, die in der ausschließ-
lichen Eigenthümlichkeit der Musik begründet liegen, jeder andern Sprache
aber fremd und unausdrückbar sind. Jeder soll und kann nach seiner Kraft,
seiner Fähigkeit und seiner Stimmung, aus ihr genießen, was er zu genießen
und zu empfinden fähig ist!" (Wagner 1871-1873, 1, 183 = Wagner 1907, 1, 148 f.).
Vor dem Hintergrund der Wagnerschen Konzeption einer unendlichen
Melodie im Zusammenhang mit N.s vorhergehendem Satz „Das Chaos macht
ahnen..." (24, 26) scheint hier noch ein tieferer Gegensatz zu Wagner ausge-
drückt zu werden: „Unendlichkeit, aber ohne Melodie" bedeutet leere Ewigkeit
ohne inneren Zusammenhang (einer Idee). Die innere Stimmigkeit der Musik
und unendliche Fähigkeit zur Ausgestaltung machen bei Wagner ihre metaphy-
sische und sinnvolle Idealität zur Welt aus. Ohne diese Ausgestaltung bleibt
sie unartikuliert, in der Welt wiederum erscheint sie nur in einer entfremdeten,
nicht ewigen Gestalt, durchaus entsprechend dem Schopenhauerschen Gegen-
satz von Vorstellung und dem zwar unmittelbar blinden, aber in sich zusam-
menhängenden und mit sich eins seienden Willen. Dessen unmittelbare Objek-
tivation ist ja, neben den „Ideen der Welt", die Musik (vgl. Die Welt als Wille
und Vorstellung, Bd. 1, 3. Buch, § 52; Schopenhauer 1873-1874, 2, 313 f.), welche
damit in ihrer inneren Harmonie zugleich die innere Struktur der Welt als
Parallele in sich enthält (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, 3. Buch,
Kap. 39, Schopenhauer 1873-1874, 3, 517-523). — Fällt dieses Prinzip eines
metaphysischen, der Erscheinung vorausgehenden Zusammenhangs aber weg,
wird also das Chaos Prinzip, dann greifen das Wagnersche Erinnern und
Ahnen ins Leere: Nicht der vorgebliche Gegensatz einer dem metaphysischen
Prinzip entfremdeten Welt macht ahnen, sondern das dilettantische Chaos der
Wagnerschen Musik selbst lässt den Zuhörer nach der fehlenden Harmonie
lechzen.
24, 29 Was, zuzweit, das Umwerfen angeht] In W II 6, 116 stand davor: „Was,
zuzweit, die Tiefe angeht: so genügt es, eigenhändig den Schlamm der dichtes-
von Tönen ist das Vorspiel zum ,Tristan'. Es war, als sei eine Bombe in ein
grosses musikalisches Werk gefahren und habe alle Noten über- und unterein-
ander geworfen'. — Andre Giovanoly behauptete 1876 nach den Aufführungen
in Bayreuth: ,Der Wagnerismus ist das freiwillige Chaos.'" (Tappert 1877, 7,
vgl. zu „Tohubohu" [sic] ebd., 38).
24, 27 f. In der Sprache des Meisters geredet: Unendlichkeit, aber ohne Melo-
die.] Zur „unendlichen Melodie" siehe NK 14, 1 f. Mit dem Unendlichen pflegt
Wagner gern zu operieren, wenn er die Macht der Musik beschwört: „Das, was
die Musik ausspricht, ist ewig, unendlich und ideal; sie spricht nicht die Lei-
denschaft, die Liebe, die Sehnsucht dieses oder jenes Individuums in dieser
oder jener Lage aus, sondern die Leidenschaft, die Liebe, die Sehnsucht selbst,
und zwar in den unendlich mannigfaltigen Motivirungen, die in der ausschließ-
lichen Eigenthümlichkeit der Musik begründet liegen, jeder andern Sprache
aber fremd und unausdrückbar sind. Jeder soll und kann nach seiner Kraft,
seiner Fähigkeit und seiner Stimmung, aus ihr genießen, was er zu genießen
und zu empfinden fähig ist!" (Wagner 1871-1873, 1, 183 = Wagner 1907, 1, 148 f.).
Vor dem Hintergrund der Wagnerschen Konzeption einer unendlichen
Melodie im Zusammenhang mit N.s vorhergehendem Satz „Das Chaos macht
ahnen..." (24, 26) scheint hier noch ein tieferer Gegensatz zu Wagner ausge-
drückt zu werden: „Unendlichkeit, aber ohne Melodie" bedeutet leere Ewigkeit
ohne inneren Zusammenhang (einer Idee). Die innere Stimmigkeit der Musik
und unendliche Fähigkeit zur Ausgestaltung machen bei Wagner ihre metaphy-
sische und sinnvolle Idealität zur Welt aus. Ohne diese Ausgestaltung bleibt
sie unartikuliert, in der Welt wiederum erscheint sie nur in einer entfremdeten,
nicht ewigen Gestalt, durchaus entsprechend dem Schopenhauerschen Gegen-
satz von Vorstellung und dem zwar unmittelbar blinden, aber in sich zusam-
menhängenden und mit sich eins seienden Willen. Dessen unmittelbare Objek-
tivation ist ja, neben den „Ideen der Welt", die Musik (vgl. Die Welt als Wille
und Vorstellung, Bd. 1, 3. Buch, § 52; Schopenhauer 1873-1874, 2, 313 f.), welche
damit in ihrer inneren Harmonie zugleich die innere Struktur der Welt als
Parallele in sich enthält (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, 3. Buch,
Kap. 39, Schopenhauer 1873-1874, 3, 517-523). — Fällt dieses Prinzip eines
metaphysischen, der Erscheinung vorausgehenden Zusammenhangs aber weg,
wird also das Chaos Prinzip, dann greifen das Wagnersche Erinnern und
Ahnen ins Leere: Nicht der vorgebliche Gegensatz einer dem metaphysischen
Prinzip entfremdeten Welt macht ahnen, sondern das dilettantische Chaos der
Wagnerschen Musik selbst lässt den Zuhörer nach der fehlenden Harmonie
lechzen.
24, 29 Was, zuzweit, das Umwerfen angeht] In W II 6, 116 stand davor: „Was,
zuzweit, die Tiefe angeht: so genügt es, eigenhändig den Schlamm der dichtes-