Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0117
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
98 Der Fall Wagner

legend erneuerte, siehe NK KSA 1, 120, 14-32. Wagner wiederum polemisiert
gegen die Annahme, die von ihm verachtete, so melodienreiche italienische
Oper sei in eine kausale Verbindung mit dem Schaffen Palestrinas zu bringen:
Man könne „nach einer Anhörung des ,Stabat mater' von Palestrina unmöglich
die Meinung aufrecht erhalten [...], daß die italienische Oper eine legitime
Tochter dieser wundervollen Mutter sei." (Wagner 1871-1873, 7, 126 f. = Wagner
1907, 7, 90) Um dieser Ansicht Nachdruck zu verleihen, hat Wagner selbst eine
Ausgabe von Palestrinas Stabat mater mit Vortragsbezeichnungen für Kirche
und Konzertaufführungen veranstaltet (vgl. Cosimas Tagebuch, 2. August 1878,
C. Wagner 1988, 3, 153 u. 4, 1167). Über die Wirkung von Palestrinas geistlicher
Musik und ihren Unterschied zur melodiösen, weltlichen Tanzmusik hat Wag-
ner 1870 in seiner Beethoven-Festschrift nachgedacht. „Wenn wir, mit dem
Festhalten der öfter angezogenen Analogie des allegorischen Traumes, uns die
Musik, von einer innersten Schau angeregt, nach außen hin diese Schau mit-
theilend denken wollen, so müssen wir als das eigentliche Organ hierfür, wie
dort das Traumorgan, eine cerebrale Befähigung annehmen, vermöge welcher
der Musiker zuerst das aller Erkenntniß verschlossene innere An-sich wahr-
nimmt, ein nach innen gewendetes Auge, welches nach außen gerichtet zum
Gehör wird. Wollen wir das von ihm wahrgenommene innerste (Traum-) Bild
der Welt in seinem getreuesten Abbilde uns vorgeführt denken, so vermögen
wir dieß in ahnungsvollster Weise, wenn wir eines jener berühmten Kirchen-
stücke Palestrina's anhören. Hier ist der Rhythmus nur erst noch durch
den Wechsel der harmonischen Accordfolgen wahrnehmbar, während er ohne
diese, als symmetrische Zeitfolge für sich, gar nicht existirt; hier ist demnach
die Zeitfolge noch so unmittelbar an das, an sich zeit- und raumlose Wesen
der Harmonie gebunden, daß die Hilfe der Gesetze der Zeit für das Verständniß
einer solchen Musik noch gar nicht zu verwenden ist. Die einzige Zeitfolge in
einem solchen Tonstücke äußert sich fast nur in den zartesten Veränderungen
einer Grundfarbe, welche die mannigfaltigsten Übergänge im Festhalten ihrer
weitesten Verwandtschaft uns vorführt, ohne daß wir eine Zeichnung von
Linien in diesem Wechsel wahrnehmen können. Da nun diese Farbe selbst
aber nicht im Raume erscheint, so erhalten wir hier ein fast ebenso zeit- als
raumloses Bild, eine durchaus geistige Offenbarung, von welcher wir daher
mit so unsäglicher Rührung ergriffen werden, weil sie uns zugleich deutlicher
als alles Andere das innerste Wesen der Religion, frei von jeder dogmatischen
Begriffsfiktion, zum Bewußtsein bringt. / Vergegenwärtigen wir uns jetzt hinwi-
der ein Tanzmusikstück, oder einen dem Tanzmotive nachgebildeten Orches-
tersymphoniesatz, oder endlich eine eigentliche Opernpiece, so finden wir
unsere Phantasie sogleich durch eine regelmäßige Anordnung in der Wieder-
kehr rhythmischer Perioden gefesselt, durch welche sich zunächst die Ein-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften