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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0118
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Stellenkommentar WA 6, KSA 6, S. 25 99

dringlichkeit der Melodie, vermöge der ihr gegebenen Plastizität, bestimmt."
(Wagner 1871-1873, 9, 98 f. = Wagner 1907, 9, 79 f.) Wagner will, nach N.s Dia-
gnose, gerade im Parsifal zurück zu einer vormelodiösen Form der Musik. Das
ist eine Überlegung, die sich mit einer Beobachtung von Paul Lindau deckt,
wonach man bereits im Vorspiel zum Parsifal und in seinen Leitmotiven an die
vormoderne Musik erinnert werde: „Si l'on ne savait pas que le compositeur
est Wagner, on pourrait supposer que c'est Palestrina." (Lindau 1885, 176.
„Wüßte man nicht, daß Richard Wagner der Componist ist, so könnte man auf
Palestrina schließen." Lindau 1883, 5).
25, 20-25 Leidenschaft — oder die Gymnastik des Hässlichen auf dem Seile
der Enharmonik. — Wagen wir es, meine Freunde, hässlich zu sein! Wagner hat
es gewagt! Wälzen wir unverzagt den Schlamm der widrigsten Harmonien vor
uns her! Schonen wir unsre Hände nicht! Erst damit werden wir natürlich...]
Der Begriff der Enharmonik taucht in N.s Werken nur hier auf; auch Wagner
benutzt ihn nicht. Die lexikalische Bestimmung lautete damals: „Enharmonik
(griech.), das Verhältnis von Tönen, welche nach den mathematischen Bestim-
mungen der Tonhöhe und teilweise auch in der Notenschrift verschieden sind,
in der musikalischen Praxis aber identifiziert werden, z. B. f und eis, h und ces
etc. [...]. Das 15. Jahrh. brachte mit seiner Gräkomanie auch das enharmonische
Tongeschlecht wieder auf, und verschiedenartige mathematische Erklärungen
desselben wurden versucht. Die damals aufgestellten minimalen Tonhöhendif-
ferenzen wurden enharmonische Diesen genannt ([...]). Das praktische Ergeb-
nis dieser für ihren eigentlichen Zweck fruchtlosen Bemühungen war die
Erkenntnis, daß einem und demselben Ton unsers Musiksystems verschiedene
mathematische Werte zukommen, daß aber unsre praktische Musik für die-
selbe nur Näherungswerte gibt und geben kann. So begriff die Theorie allmäh-
lich die von der Praxis längst angebahnte gleichschwebende Temperatur, wel-
che die annähernd gleichen Werte gleichsetzt (enharmonisch identifiziert). [...]
Unter enharmonischer Verwechselung versteht man die Vertauschung
solcher eigentlich verschiedenen Werte. Diese Vertauschung ist entweder nur
eine Erleichterung fürs Lesen, d. h. es wird statt der Schreibweise mit Been
vorübergehend die mit Kreuzen gewählt, oder aber (besonders wenn nur ein
Ton um/663/gedeutet wird) sie bedeutet ein wirkliches Umspringen der harmo-
nischen Auffassung." (Meyer 1885-1892, 5, 662 f.) Die Enharmonik in Wagners
Werken war zu N.s Zeit ein vieldiskutiertes Thema, auch wenn keineswegs
zwangsläufig Enharmonik und Hässlichkeit miteinander verbunden werden.
Auch bei einem Wagnerianer wie Richard Pohl ist in den Studien und Kritiken
zum Tristan zu lesen: „Der Begriff einer selbständigen Tonalität erscheint hier
völlig aufgelöst; die Chromatik und Enharmonik gipfelt sich hier zu einer Sou-
veränität, die nicht zu überbieten ist. Und das Wagnersche Prinzip der freien
 
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