102 Der Fall Wagner
N.s Parteinahme für Bizets Carmen zu Beginn von WA scheint einerseits —
gerade auch in der Stoffwahl — gegen Wagners scheinheiligen Moralismus für
die fröhliche Frivolität Partei zu ergreifen. Andererseits erfüllt Carmen in N.s
Analyse jedoch gerade das von Wagner aufgestellte Kriterium, nicht frivol zu
sein, nämlich eine starke Einheit von Text und Musik zu bilden. Entsprechend
könnte der Eindruck entstehen, N. bleibe mit seinem ästhetischen Urteil nach
wie vor in Wagners Koordinatensystem gefangen, selbst wenn er sich innerhalb
dieses Koordinatensystems gegen Wagner wendet.
26, 8-11 Lassen wir niemals zu, dass die Musik „zur Erholung diene"; dass sie
„erheitere"; dass sie „Vergnügen mache". Machen wir nie Vergnügen! —
wir sind verloren, wenn man von der Kunst wieder hedonistisch denkt...] Etwa in
Deutsche Kunst und Deutsche Politik (1868) polemisiert Wagner gegen ein bloß
vergnügungsorientiertes Kunstverständnis, das vorherrsche und gegen das er
sein eigenes setzt: „Der täglich angespannte Verbrauch seiner geistigen Kräfte
für die unmittelbaren Nützlichkeitszwecke des Lebens gestattet der bürgerli-
chen Welt keine zwecklose Beschäftigung mit Litteratur und Kunst: desto mehr
bedarf sie der Erholung durch abziehende, in einem guten Sinne zerstreuende
Unterhaltung, welche ihr wenig oder gar keine Vorbereitung kosten darf. Dieß
ist das Bedürfniß. Ihm zu entsprechen, stellt sich sofort der Mime ein; ihm
dient das Bedürfniß des Publikums sogar zum Erwerbsquell, wie dem Bäcker
der Hunger." (Wagner 1871-1873, 8, 147 = Wagner 1907, 8, 116).
26, 12-14 Nichts dagegen dürfte räthlicher sein, bei Seite gesagt, als eine
Dosis — Muckerthum, sit venia verbo. Das giebt Würde.] „Mucker" war zu
N.s Zeit ein „allgemeiner Spottname für die Anhänger einer ungesunden und
exklusiven Frömmigkeit" (Meyer 1885-1892, 11, 845). Im Aufsatz Über das Diri-
giren (1869) nimmt Wagner direkt zu diesem offenbar geläufigen Vorwurf Stel-
lung und weist ihn weit von sich: „Vor einiger Zeit warf ein süddeutscher
Zeitungsredakteur meinen Kunsttheorien ,muckerische' Tendenzen vor: der
Mann wußte offenbar nicht, was er damit sagte; es war ihm einfach um ein
böses Wort zu thun. Was ich dagegen von dem Wesen der Muckerei in Erfah-
rung gebracht habe, bezeichnet die sonderbare Tendenz dieser widerlichen
Sekte damit, daß hier dem Anreizenden und Verführerischen auf das Angele-
gentlichste nachgetrachtet wird, um an der schließlichen Abwehr desselben
seine Widerstandskraft gegen den Reiz und die Verführung zu üben." (Wagner
1871-1873, 8, 393 = Wagner 1907, 8, 321. Zum Bezug: „Muckerfräulein nannte
Wilhelm Bauck 1857 die Elisabeth im ,Tannhäuser'." Tappert 1877, 25).
Cosima Wagner sieht am 14. 02. 1873 im „Musiker-Muckertum" die finstere
Oppositionsmacht zum „Bayreuther Unternehmen" (C. Wagner 1988, 2, 639;
vgl. ihren Brief an N. vom 09. 12. 1869, KGB II 2, Nr. 46, S. 92, Z. 66). Der
N.s Parteinahme für Bizets Carmen zu Beginn von WA scheint einerseits —
gerade auch in der Stoffwahl — gegen Wagners scheinheiligen Moralismus für
die fröhliche Frivolität Partei zu ergreifen. Andererseits erfüllt Carmen in N.s
Analyse jedoch gerade das von Wagner aufgestellte Kriterium, nicht frivol zu
sein, nämlich eine starke Einheit von Text und Musik zu bilden. Entsprechend
könnte der Eindruck entstehen, N. bleibe mit seinem ästhetischen Urteil nach
wie vor in Wagners Koordinatensystem gefangen, selbst wenn er sich innerhalb
dieses Koordinatensystems gegen Wagner wendet.
26, 8-11 Lassen wir niemals zu, dass die Musik „zur Erholung diene"; dass sie
„erheitere"; dass sie „Vergnügen mache". Machen wir nie Vergnügen! —
wir sind verloren, wenn man von der Kunst wieder hedonistisch denkt...] Etwa in
Deutsche Kunst und Deutsche Politik (1868) polemisiert Wagner gegen ein bloß
vergnügungsorientiertes Kunstverständnis, das vorherrsche und gegen das er
sein eigenes setzt: „Der täglich angespannte Verbrauch seiner geistigen Kräfte
für die unmittelbaren Nützlichkeitszwecke des Lebens gestattet der bürgerli-
chen Welt keine zwecklose Beschäftigung mit Litteratur und Kunst: desto mehr
bedarf sie der Erholung durch abziehende, in einem guten Sinne zerstreuende
Unterhaltung, welche ihr wenig oder gar keine Vorbereitung kosten darf. Dieß
ist das Bedürfniß. Ihm zu entsprechen, stellt sich sofort der Mime ein; ihm
dient das Bedürfniß des Publikums sogar zum Erwerbsquell, wie dem Bäcker
der Hunger." (Wagner 1871-1873, 8, 147 = Wagner 1907, 8, 116).
26, 12-14 Nichts dagegen dürfte räthlicher sein, bei Seite gesagt, als eine
Dosis — Muckerthum, sit venia verbo. Das giebt Würde.] „Mucker" war zu
N.s Zeit ein „allgemeiner Spottname für die Anhänger einer ungesunden und
exklusiven Frömmigkeit" (Meyer 1885-1892, 11, 845). Im Aufsatz Über das Diri-
giren (1869) nimmt Wagner direkt zu diesem offenbar geläufigen Vorwurf Stel-
lung und weist ihn weit von sich: „Vor einiger Zeit warf ein süddeutscher
Zeitungsredakteur meinen Kunsttheorien ,muckerische' Tendenzen vor: der
Mann wußte offenbar nicht, was er damit sagte; es war ihm einfach um ein
böses Wort zu thun. Was ich dagegen von dem Wesen der Muckerei in Erfah-
rung gebracht habe, bezeichnet die sonderbare Tendenz dieser widerlichen
Sekte damit, daß hier dem Anreizenden und Verführerischen auf das Angele-
gentlichste nachgetrachtet wird, um an der schließlichen Abwehr desselben
seine Widerstandskraft gegen den Reiz und die Verführung zu üben." (Wagner
1871-1873, 8, 393 = Wagner 1907, 8, 321. Zum Bezug: „Muckerfräulein nannte
Wilhelm Bauck 1857 die Elisabeth im ,Tannhäuser'." Tappert 1877, 25).
Cosima Wagner sieht am 14. 02. 1873 im „Musiker-Muckertum" die finstere
Oppositionsmacht zum „Bayreuther Unternehmen" (C. Wagner 1988, 2, 639;
vgl. ihren Brief an N. vom 09. 12. 1869, KGB II 2, Nr. 46, S. 92, Z. 66). Der