Stellenkommentar WA 7, KSA 6, S. 26-27 105
26, 30 ein Talent zu lügen] Die Wendung „Talent zu lügen" (auch in der
französischen Form „talent de mentir") ist im 19. Jahrhundert oft belegt — z. B.
in Wilhelm Raabes Roman Die Kinder von Finkenrode (Raabe 1859, 117) — ,
ohne dort jedoch der allgemeinen Charakterisierung einer spezifischen Form
von Künstlerschaft zu dienen.
26, 31 f. (in einem Capitel meines Hauptwerks, das den Titel führt „Zur Physio-
logie der Kunst")] Der Beginn dieses Kapitels ist eingegangen in GD Streifzüge
eines Unzeitgemässen 8-11, vgl. NK KSA 6, 116, 3-119, 8. Im Frühjahr 1888
füllte N. sein Notizheft W II 9 mit Aufzeichnungen „Zur Physiologie der Kunst"
(vgl. KSA 14, 405). Eine Planskizze eines entsprechenden Werkes gibt das Notat
NL 1888, KSA 13, 17[9], 529 f., während sich Materialien unter diesem Titel
bereits in NL 1886/87, KSA 12, 7[7], 284-290 finden.
26, 32 Physiologie der Kunst] Vgl. zum Wortfeld Physiologie NK KSA 6, 144,
18, zur „Physiologie der Kunst" im Besonderen Lypp 1984 und Pfotenhauer
1985. Schon in GM III 8 hatte N. die „bisher so unberührte, so unaufgeschlos-
sene Physiologie der Ästhetik" (KSA 5, 356, 13 f.) behandelt wissen wol-
len — eben gerade in der Absicht zu zeigen, dass das Ästhetische keineswegs
in ätherischen Gefilden angesiedelt ist, sondern sich sehr handgreiflichen
Lebensbedürfnissen verdankt. Für deutsche Ohren klangen solche Wendungen
1887/88 unerhört, waren jedoch auf Französisch durchaus geläufig, wenn auch
nicht in dem allgemeinen Sinn, den N. ihnen geben wollte (als Beispiele für
die „physiologie de Tart" siehe Regnault-Warin 1827, 11 und Clergeau 1860, 50).
Das (bei N. nicht belegte) Kompositum „Kunstphysiologen" benutzt Gottfried
Semper hingegen bereits 1860 in seinem Handbuch Der Stil in den technischen
und tektonischen Künsten mit ironischer Färbung, wenn er von einem „Curio-
sum" und „Monstrum" im „einmal etablirte[n] System unserer Kunstphysiolo-
gen" spricht (Semper 1860, 432).
26, 33-27, 4 diese Gesammtverwandlung der Kunst in's Schauspielerische eben
so bestimmt ein Ausdruck physiologischer Degenerescenz (genauer, eine Form
des Hysterismus) ist, wie jede einzelne Verderbniss und Gebrechlichkeit der
durch Wagner inaugurirten Kunst] Vgl. NK 22, 26-23, 2. Den theatralischen Hang
(„penchant theätral") der Hysteriker arbeitet Richet 1884, 124 heraus (vgl. ebd.,
265 und auch Kunze 1881, 98). Von der hysterischen Verstellungssucht des
modernen Künstlers handelt ausführlicher NL 1888, KSA 13, 16[89], 517 f.
27, 4-6 die Unruhe ihrer Optik, die dazu nöthigt, in jedem Augenblick die Stel-
lung vor ihr zu wechseln] Die „Unruhe des Auges, welches bald für Mosaik und
bald für verwegen hingeworfene Wand-Fresken eingestellt werden soll", bringt
N. in NL 1887/88, KSA 13, 11[321], 134, 21-23 (KGW IX 7, W II 3, 62, 13-15) mit
26, 30 ein Talent zu lügen] Die Wendung „Talent zu lügen" (auch in der
französischen Form „talent de mentir") ist im 19. Jahrhundert oft belegt — z. B.
in Wilhelm Raabes Roman Die Kinder von Finkenrode (Raabe 1859, 117) — ,
ohne dort jedoch der allgemeinen Charakterisierung einer spezifischen Form
von Künstlerschaft zu dienen.
26, 31 f. (in einem Capitel meines Hauptwerks, das den Titel führt „Zur Physio-
logie der Kunst")] Der Beginn dieses Kapitels ist eingegangen in GD Streifzüge
eines Unzeitgemässen 8-11, vgl. NK KSA 6, 116, 3-119, 8. Im Frühjahr 1888
füllte N. sein Notizheft W II 9 mit Aufzeichnungen „Zur Physiologie der Kunst"
(vgl. KSA 14, 405). Eine Planskizze eines entsprechenden Werkes gibt das Notat
NL 1888, KSA 13, 17[9], 529 f., während sich Materialien unter diesem Titel
bereits in NL 1886/87, KSA 12, 7[7], 284-290 finden.
26, 32 Physiologie der Kunst] Vgl. zum Wortfeld Physiologie NK KSA 6, 144,
18, zur „Physiologie der Kunst" im Besonderen Lypp 1984 und Pfotenhauer
1985. Schon in GM III 8 hatte N. die „bisher so unberührte, so unaufgeschlos-
sene Physiologie der Ästhetik" (KSA 5, 356, 13 f.) behandelt wissen wol-
len — eben gerade in der Absicht zu zeigen, dass das Ästhetische keineswegs
in ätherischen Gefilden angesiedelt ist, sondern sich sehr handgreiflichen
Lebensbedürfnissen verdankt. Für deutsche Ohren klangen solche Wendungen
1887/88 unerhört, waren jedoch auf Französisch durchaus geläufig, wenn auch
nicht in dem allgemeinen Sinn, den N. ihnen geben wollte (als Beispiele für
die „physiologie de Tart" siehe Regnault-Warin 1827, 11 und Clergeau 1860, 50).
Das (bei N. nicht belegte) Kompositum „Kunstphysiologen" benutzt Gottfried
Semper hingegen bereits 1860 in seinem Handbuch Der Stil in den technischen
und tektonischen Künsten mit ironischer Färbung, wenn er von einem „Curio-
sum" und „Monstrum" im „einmal etablirte[n] System unserer Kunstphysiolo-
gen" spricht (Semper 1860, 432).
26, 33-27, 4 diese Gesammtverwandlung der Kunst in's Schauspielerische eben
so bestimmt ein Ausdruck physiologischer Degenerescenz (genauer, eine Form
des Hysterismus) ist, wie jede einzelne Verderbniss und Gebrechlichkeit der
durch Wagner inaugurirten Kunst] Vgl. NK 22, 26-23, 2. Den theatralischen Hang
(„penchant theätral") der Hysteriker arbeitet Richet 1884, 124 heraus (vgl. ebd.,
265 und auch Kunze 1881, 98). Von der hysterischen Verstellungssucht des
modernen Künstlers handelt ausführlicher NL 1888, KSA 13, 16[89], 517 f.
27, 4-6 die Unruhe ihrer Optik, die dazu nöthigt, in jedem Augenblick die Stel-
lung vor ihr zu wechseln] Die „Unruhe des Auges, welches bald für Mosaik und
bald für verwegen hingeworfene Wand-Fresken eingestellt werden soll", bringt
N. in NL 1887/88, KSA 13, 11[321], 134, 21-23 (KGW IX 7, W II 3, 62, 13-15) mit