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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0126
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Stellenkommentar WA 7, KSA 6, S. 27 107

musikalische Anlage." (Bahnsen 1867, 1, 270) Freilich ist das nicht unmittelbar
auf Wagner gemünzt. Dies ist hingegen ein Urteil von Paul Lindau: „Dans Wag-
ner se reunissent les elements les plus contradictoires." (Lindau 1885, 61 f. „In
Wagner paaren sich die widerspruchsvollsten Elemente." Lindau 1877, 31).
27, 14 Krisis des Geschmacks] In seinem berühmten Werk über Die romanti-
sche Schule benutzt Rudolf Haym 1870 die Wendung in ähnlichem, (zeit)kultur-
kritischem Kontext, wenn auch zugunsten einer dezidiert klassizistischen
Kunstauffassung: „Die Herrschaft des Interessanten kann ihrer Natur nach nur
eine vorübergehende Krisis des Geschmacks sein: recht verstanden kann sich
jenes Streben nur auflösen in das, freilich immer nur annähernd zu errei-
chende höchste Schöne, was, im Gegensatz zum Interessanten, das Allgemein-
gültige, Beharrliche, Nothwendige, — das Objective ist." (Haym 1870, 189).
27, 16 Ich halte mich dies Mal nur bei der Frage des Stils auf.] Für die zeitge-
nössische Stil-Kritik an Wagner sind Lindaus Überlegungen repräsentativ:
„D'apres la definition de Schiller du moins, le ,maitre‘ n'est pas un maitre en
style, dont la qualite maitresse consiste precisement ä savoir sagement se taire.
Wagner dit tout ce qu'il a sur le coeur, et, si je ne me trompe, parfois meme
un peu davantage." (Lindau 1885, 61. „Der ,Meister' ist wenigstens nach der
Schiller'schen Definition durchaus nicht ein Meister des Stils, der gerade darin
seine Meisterschaft bewährt, weise zu verschweigen. Wagner sagt Alles, was
er auf dem Herzen hat und, wenn ich mich nicht täusche, bisweilen sogar
noch etwas mehr." Lindau 1877, 31).
27, 17-22 Womit kennzeichnet sich jede litterarische decadence? Damit,
dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und
springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der
Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen — das Ganze ist kein
Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der decadence] N.
schließt hier an die berühmte Definition literarischer Dekadenz an, die er im
ersten, unter seinen Büchern nicht erhaltenen Band der Essais de psychologie
contemporaine von Paul Bourget gefunden hat. Bereits in NL 1883/84, KSA 10,
24[6], 646, 16-18 wendet er diese Definition auf Wagner an: „Stil des Verfalls
bei Wagner: die einzelne Wendung wird souverän, die Unterordnung
und Einordnung wird zufällig. Bourget p 25." Im Original und weiteren Zusam-
menhang lautet der Passus, dessen zweiten Teil N. dann für WA 7 bearbeitet:
„Par le mot de decadence, on designe volontiers l'etat d'une societe qui produit
un trop grand nombre d'individus impropres aux travaux de la vie commune.
Une societe doit etre assimilee ä un organisme. Comme un organisme, en effet,
elle se resout en une federation d'organismes moindres, qui se resolvent eux-
memes en une federation de cellules. L'individu est la cellule sociale. Pour que
 
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