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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0175
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156 Der Fall Wagner

Wagners zweiter Frau Cosima. N.s Geburt der Tragödie hatte Liszt noch mit
Wohlwollen aufgenommen: „Darin braust und flammt ein gewaltiger Geist der
mich innigst ergriff." (Liszt an N., 29. 02. 1872, KGB II 2, Nr. 292, S. 557, Z. 5 f.)
Im selben Brief ließ Liszt N. freilich auch wissen, dass die „Abgötterei", welche
„die Gelehrten" mit dem „Griechenthum" trieben, ihm fremd geblieben sei:
„nicht ringsumher des Parnass und Helikon schweift mein Blick; wohl aber
haftet meine Seele am Thabor und Golgatha" (ebd., Z. 9-15). Spätestens von
da an identifiziert N. Liszt — der immerhin in Rom die niederen Weihen emp-
fangen hatte und sich gelegentlich als Abbe titulieren ließ — mit dem Christen-
tum, und zwar in seiner katholischen Variante: „Der Parsifal W(agner)s war
zu allererst- und anfänglichst eine Geschmacks-Condescendenz W(agner)s zu
den katholischen Instinkten seines Weibes, der Tochter Liszt's" (NL 1887/88,
KSA 13, 11[27], 16, 11-14 = KGW IX 7, W II 3, 190, 9-12). Eine Katholisierung
Wagners durch Liszt oder seine Tochter meinte N. schon am 04. 01. 1878 in
einem Brief an Reinhart von Seydlitz beim Parsifal feststellen zu können:
„mehr Liszt, als Wagner, Geist der Gegenreformation" (KSB 5, Nr. 678, S. 300,
Z. 10 f.). Folgerichtig liest sich dann die Bemerkung in WA Epilog, KSA 6, 51,
32 f.: „Wenn Wagner ein Christ war, nun dann war vielleicht Liszt ein Kirchen-
vater!"
Während N. Liszt für Wagners christliche Korruption und dessen Abfall
von seinen ursprünglichen Überzeugungen verantwortlich macht, sieht er Liszt
in einem Brief an Malwida von Meysenbug vom 24. 09. 1886 zu Wagner zurück-
kehren. Liszt war im Sommer 1886 zu den unter der Leitung seiner Tochter
Cosima stehenden Bayreuther Festspielen nach Bayreuth gekommen, verstarb
dort und wurde in Bayreuth begraben. „So hat sich denn der alte Liszt, der
sich auf's Leben und Sterben verstand, nun doch noch gleichsam in die Wag-
ner'sche Sache und Welt hinein begraben lassen: wie als ob er ganz unver-
meidlich und unabtrennlich hinzugehörte. Dies hat mir in die Seele Cosima's
hinein weh gethan: es ist eine Falschheit mehr um Wagner herum, eins jener
fast unüberwindlichen Mißverständnisse, unter denen heute der Ruhm Wag-
ner's wächst und ins Kraut schießt. Nach dem zu urtheilen, was ich bisher
von Wagnerianern kennen gelernt habe, scheint mir die heutige Wagnerei eine
unbewußte Annäherung an Rom, welche von innen her dasselbe thut, was
Bismarck von außen thut." (KSB 7, Nr. 756, S. 257, Z. 28-38) Während 1886
also die (posthume) Vereinigung von Wagner und Liszt N. noch auf einem
„Mißverständniss" zu beruhen schien, verbindet er in WA 11 die beiden Kom-
ponisten als Verantwortliche für die „Heraufkunft des Schauspielers
in der Musik" (37, 23 f.) mit einem programmatischen „und". Das Problem
der Re-Christianisierung der Musik, das N. WA Epilog, KSA 6, 51, 32 f. im Blick
auf die beiden Komponisten zur Sprache bringt, spielt hier eine untergeordnete
 
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