186 Der Fall Wagner
mir die Tannhäuser-Ouvertüre wie eine Zote vorkam. Instrumental durchdacht
und ausgerechnet, lauter Filigran." (KSB 8, Nr. 1168, S. 499, Z. 29-36) Gemeint
ist Goldmarks erstes bekanntes Werk, die Sakuntala Ouvertüre (1866).
49, 2 die überströmende Animalität eines Rossini] Vgl. NKA KSA 6, 291, 7.
Epilog
50, 7-17 Jede Zeit hat in ihrem Maass von Kraft ein Maass auch dafür, welche
Tugenden ihr erlaubt, welche ihr verboten sind. Entweder hat sie die Tugenden des
aufsteigenden Lebens: dann widerstrebt sie aus unterstem Grunde den Tugen-
den des niedergehenden Lebens. Oder sie ist selbst ein niedergehendes Leben, —
dann bedarf sie auch der Niedergangs-Tugenden, dann hasst sie Alles, was aus der
Fülle, was aus dem Überreichthum an Kräften allein sich rechtfertigt. Die Aesthetik
ist unablöslich an diese biologischen Voraussetzungen gebunden: es giebt eine
decadence-Aesthetik, es giebt eine klassische Aesthetik] Stellen wie diese
umreißen N.s „Physiologie der Kunst" (vgl. NK 26, 31 f.), die sich hier in eine
umfassende Geschichtsdeutung einschreibt, aber doch nur mit einer einfachen
Dichotomie operiert, nämlich derjenigen zwischen dem aufsteigenden und dem
niedergehenden Leben, die jeweils anderer Tugenden bedürften. N.s kulturkriti-
sche Absicht scheint es zu sein, die Tugenden des aufsteigenden Lebens zu
erzwingen, wobei es sehr fraglich erscheint, ob dies gelingen kann, wenn doch
nach N.s eigener Diagnose das Auf- oder Absteigen des Lebens von physischen
Gegebenheiten und nicht von schriftstellerischer Agitation abhängt. Allerdings
räumt N. stets auch der Moral, also einem Produkt pragmatisch-intellektueller
Anstrengung, die Fähigkeit ein, über auf- oder absteigendendes Leben mitzuent-
scheiden, weil Moral die jeweilige Haltung zum Leben prägt. N.s Position lässt
sich damit nicht reduzieren auf einen schlichten Naturalismus, der geistige
Tätigkeit oder Kunst zum bloßen Epiphänomen physischer Gegebenheiten
degradierte. Auch N.s Begriff von „Klassik" ist anderswo durchaus differenzier-
ter als er hier in WA Epilog erscheint, wo eine „klassische Aesthetik" einfach als
Ausdruck des aufsteigenden Lebens propagiert wird. Zum „klassischen Stil" vgl.
auch NK KSA 6, 116, 22-27 u. NK KSA 6, 155, 10-14.
50, 17 f. ein „Schönes an sich" ist ein Hirngespinst, wie der ganze Idealismus]
Vgl. NK KSA 6, 123, 8-15.
50, 18-22 In der engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werthe ist kein
grösserer Gegensatz aufzufinden, als der einer Herren-Moral und der Moral
der christlichen Werthbegriffe: letztere, auf einem durch und durch morbiden
mir die Tannhäuser-Ouvertüre wie eine Zote vorkam. Instrumental durchdacht
und ausgerechnet, lauter Filigran." (KSB 8, Nr. 1168, S. 499, Z. 29-36) Gemeint
ist Goldmarks erstes bekanntes Werk, die Sakuntala Ouvertüre (1866).
49, 2 die überströmende Animalität eines Rossini] Vgl. NKA KSA 6, 291, 7.
Epilog
50, 7-17 Jede Zeit hat in ihrem Maass von Kraft ein Maass auch dafür, welche
Tugenden ihr erlaubt, welche ihr verboten sind. Entweder hat sie die Tugenden des
aufsteigenden Lebens: dann widerstrebt sie aus unterstem Grunde den Tugen-
den des niedergehenden Lebens. Oder sie ist selbst ein niedergehendes Leben, —
dann bedarf sie auch der Niedergangs-Tugenden, dann hasst sie Alles, was aus der
Fülle, was aus dem Überreichthum an Kräften allein sich rechtfertigt. Die Aesthetik
ist unablöslich an diese biologischen Voraussetzungen gebunden: es giebt eine
decadence-Aesthetik, es giebt eine klassische Aesthetik] Stellen wie diese
umreißen N.s „Physiologie der Kunst" (vgl. NK 26, 31 f.), die sich hier in eine
umfassende Geschichtsdeutung einschreibt, aber doch nur mit einer einfachen
Dichotomie operiert, nämlich derjenigen zwischen dem aufsteigenden und dem
niedergehenden Leben, die jeweils anderer Tugenden bedürften. N.s kulturkriti-
sche Absicht scheint es zu sein, die Tugenden des aufsteigenden Lebens zu
erzwingen, wobei es sehr fraglich erscheint, ob dies gelingen kann, wenn doch
nach N.s eigener Diagnose das Auf- oder Absteigen des Lebens von physischen
Gegebenheiten und nicht von schriftstellerischer Agitation abhängt. Allerdings
räumt N. stets auch der Moral, also einem Produkt pragmatisch-intellektueller
Anstrengung, die Fähigkeit ein, über auf- oder absteigendendes Leben mitzuent-
scheiden, weil Moral die jeweilige Haltung zum Leben prägt. N.s Position lässt
sich damit nicht reduzieren auf einen schlichten Naturalismus, der geistige
Tätigkeit oder Kunst zum bloßen Epiphänomen physischer Gegebenheiten
degradierte. Auch N.s Begriff von „Klassik" ist anderswo durchaus differenzier-
ter als er hier in WA Epilog erscheint, wo eine „klassische Aesthetik" einfach als
Ausdruck des aufsteigenden Lebens propagiert wird. Zum „klassischen Stil" vgl.
auch NK KSA 6, 116, 22-27 u. NK KSA 6, 155, 10-14.
50, 17 f. ein „Schönes an sich" ist ein Hirngespinst, wie der ganze Idealismus]
Vgl. NK KSA 6, 123, 8-15.
50, 18-22 In der engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werthe ist kein
grösserer Gegensatz aufzufinden, als der einer Herren-Moral und der Moral
der christlichen Werthbegriffe: letztere, auf einem durch und durch morbiden