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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0227
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208 Götzen-Dämmerung

oder „Die Umwerthung aller Werthe" glaubte. N. definierte sein eigenes Werk
im Hinblick auf dieses noch ausstehende Hauptwerk ja tatsächlich als zwar
präparatorische und sehr gewichtige, aber doch zweitrangige Schrift. N. hat
seit 1884 intensiv an einem immer wieder umgestalteten Hauptwerk geschrie-
ben, es immer wieder in seinen publizierten Werken angekündigt und in sei-
nem Nachlass vorbereitet (vgl. Brobjer 2006). Seine Pläne für ein Hauptwerk
hat er ständig verändert, pluralisiert, neu gefasst und verworfen. Fortlaufend
haben sich solche Pläne in bestimmten Werken konkretisiert, während das
sogenannte Hauptwerk immer wieder in die Zukunft verschoben wurde, viel-
leicht, um so sowohl beim Leser wie beim Autor die intellektuelle Anspannung
aufrecht zu erhalten. Daher lassen sich die meisten Spätschriften N.s als Spalt-
und Verfallsprodukte von Hauptwerkplänen verstehen, was freilich ihrer
Bedeutung keinen Abbruch tut, sondern sie eher noch unterstreicht. Es ist kein
sinnvolles Unterfangen, aus dem Nachlass ein Hauptwerk rekonstruieren zu
wollen.
GD selbst ist zentral in N.s CEuvre, weil diese Schrift N.s spätes Denken
kompendienhaft komprimiert und protreptisch eine Synthese sowie einen sou-
veränen Überblick über N.s Denk- und Schreibformen bietet. Der darin ange-
legte Verzicht auf ,Hauptlehren' ist kein Unvermögen, sondern eher Programm.
In GD Die vier grossen Irrthümer 5 heißt es zur psychologischen Erklärung der
Erfindung imaginärer Ursachen: „Das Neue, das Unerlebte, das Fremde wird
als Ursache ausgeschlossen" (KSA 6, 93, 20 f.). Dies ließe sich ummünzen auf
die Lektüreerfahrung, die man mit GD machen kann: Die Schrift bietet Frem-
des, Unerlebtes — eine permanente Irritation. Der Text ist so gebaut, dass er
der Variabilität der Wirklichkeit möglichst gerecht wird. Zugleich ist seine auto-
deiktische Funktion nicht zu verkennen — N. will sich selbst veröffentlichen;
alle seine Publikationen von 1888 haben das Ziel, Aufmerksamkeit zu erregen
(dazu ausführlich Müller 2009). Hierbei oszilliert er zwischen den Leitmeta-
phern des Krieges und des Müßiggangs, um eine äußerste Spannung zwischen
halkyonischer Gelassenheit und aggressiver Militanz zu erzeugen. Auch die
Wahl der Satzzeichen bis hin zu den „Gänsefüsschen" (vgl. Bourquin 2009)
und die Typographie (vgl. zu früheren Schriften N.s Simson 1995) unterstrei-
chen diese Tendenz zur Nichtfestlegung, mit der sich N. in eine bewusst skepti-
sche Tradition stellt (vgl. Sommer 2006b).

6 Zur Wirkungsgeschichte
Die ungemein weitreichende N.-Rezeption ist dadurch gekennzeichnet, dass
sie sich weniger auf einzelne Werke bezieht — vielleicht mit Ausnahme von
 
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