216 Götzen-Dämmerung
ein Glücksfall" (KSA 6, 53, 10 f.), und zwar zum Zwecke einer „Diagnos-
tik der modernen Seele", die mit „einem resoluten Einschnitt in diese
Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werthe,
mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall" beginne (KSA
6, 53, 6-10). In 57, 11 f. wird dieser „Fall" jedoch nicht in die medizinische
Metaphorik eingebettet, die von 57, 14 an auftritt, sondern in martialische Meta-
phorik. N. nimmt die Wendung schließlich noch einmal auf in seinem scharfen
Brief an und gegen die „Idealistin" Malwida von Meysenbug, 20. 10. 1888 (KSB
8, Nr. 1135, S. 459, Z. 54-58): „Sie haben nie ein Wort von mir verstanden, nie
einen Schritt von mir verstanden: es hilft nichts; darüber müssen wir unter
uns Klarheit schaffen, — auch in diesem Sinn ist der ,Fall Wagner' für mich
noch ein Glücksfall -". Zu den wagnerianischen Idealen Meysenbugs
siehe NK KSA 6, 17, 17-20.
57, 12-14 Vor Allem der Krieg. Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller
zu innerlich, zu tief gewordnen Geister; selbst in der Verwundung liegt noch
Heilkraft.] Vgl. Emanuel Herrmanns Cultur und Natur: „Welche Wohlthat ist ein
Krieg! Die Spannung der Kräfte hört auf, die zu unerträglichen Verhältnissen
geführt hatte. Die Staaten ordnen sich nach neuen Gleichgewichtszuständen
der Macht, und die innere Verwaltung, die Volkswirthschaft wie die geistige
Cultur nehmen ungeahnten Aufschwung, während vor Beginn des Krieges
alles stagnirte." (Herrmann 1887, 6. Kursiviertes von N. unterstrichen. Zu N.s
Rezeption des Werkes von Emanuel Herrmann vgl. auch Müller-Lauter 1999b,
bes. 173-185 u. 350-368.) Krieg ist ein in N.s Gedankenwelt dominierendes
Motiv; er hält seine eigene Philosophie für polemogen und sieht ein „neue[s]
kriegerische[s] Zeitalter" (JGB 209, KSA 5, 140, 15) heraufdämmern (vgl. auch
AC 2, KSA 6, 170, 7 f.). An den kriegerischen Charakter seiner Philosophie wird
N. erinnert durch Köselitz' Brief vom 20. 09. 1888 (KGB III 6, Nr. 581, S. 309),
der ihn zur Änderung des Titels und zur Neufassung des Vorworts motiviert,
vgl. NK 55, 1-3. Für ein entscheidendes Ferment in der Entwicklung von Kultu-
ren hält auch Walter Bagehot den Krieg. In dem von N. gelesenen Werk Der
Ursprung der Nationen erörtert ein Kapitel unter dem Titel „Der Nutzen des
Kampfes" die Fortschrittsträchtigkeit des Krieges, der eine Zivilisation neu
dynamisiere (Bagehot 1874, 49-92).
57, 17 increscunt animi, virescit volnere virtus.] Furius Antias (wohl 1. Jh.
v. Chr.) bei Aulus Gellius: Noctes Atticae XVIII, 11, 4: „die Geister wachsen und
die Tugend ergrünt — durch eine Wunde". N. besaß die Noctes Atticae (Gellius
1875-1876, vgl. NPB 242 f.). Dort findet sich die Stelle lateinisch und in der
folgenden, umständlichen Übersetzung: „Es steigern sich die Muthbegierden,
aus Verwundung erstarkt (erblüht) Tapferkeit" (Gellius 1876, 2, 428); der origi-
ein Glücksfall" (KSA 6, 53, 10 f.), und zwar zum Zwecke einer „Diagnos-
tik der modernen Seele", die mit „einem resoluten Einschnitt in diese
Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werthe,
mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall" beginne (KSA
6, 53, 6-10). In 57, 11 f. wird dieser „Fall" jedoch nicht in die medizinische
Metaphorik eingebettet, die von 57, 14 an auftritt, sondern in martialische Meta-
phorik. N. nimmt die Wendung schließlich noch einmal auf in seinem scharfen
Brief an und gegen die „Idealistin" Malwida von Meysenbug, 20. 10. 1888 (KSB
8, Nr. 1135, S. 459, Z. 54-58): „Sie haben nie ein Wort von mir verstanden, nie
einen Schritt von mir verstanden: es hilft nichts; darüber müssen wir unter
uns Klarheit schaffen, — auch in diesem Sinn ist der ,Fall Wagner' für mich
noch ein Glücksfall -". Zu den wagnerianischen Idealen Meysenbugs
siehe NK KSA 6, 17, 17-20.
57, 12-14 Vor Allem der Krieg. Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller
zu innerlich, zu tief gewordnen Geister; selbst in der Verwundung liegt noch
Heilkraft.] Vgl. Emanuel Herrmanns Cultur und Natur: „Welche Wohlthat ist ein
Krieg! Die Spannung der Kräfte hört auf, die zu unerträglichen Verhältnissen
geführt hatte. Die Staaten ordnen sich nach neuen Gleichgewichtszuständen
der Macht, und die innere Verwaltung, die Volkswirthschaft wie die geistige
Cultur nehmen ungeahnten Aufschwung, während vor Beginn des Krieges
alles stagnirte." (Herrmann 1887, 6. Kursiviertes von N. unterstrichen. Zu N.s
Rezeption des Werkes von Emanuel Herrmann vgl. auch Müller-Lauter 1999b,
bes. 173-185 u. 350-368.) Krieg ist ein in N.s Gedankenwelt dominierendes
Motiv; er hält seine eigene Philosophie für polemogen und sieht ein „neue[s]
kriegerische[s] Zeitalter" (JGB 209, KSA 5, 140, 15) heraufdämmern (vgl. auch
AC 2, KSA 6, 170, 7 f.). An den kriegerischen Charakter seiner Philosophie wird
N. erinnert durch Köselitz' Brief vom 20. 09. 1888 (KGB III 6, Nr. 581, S. 309),
der ihn zur Änderung des Titels und zur Neufassung des Vorworts motiviert,
vgl. NK 55, 1-3. Für ein entscheidendes Ferment in der Entwicklung von Kultu-
ren hält auch Walter Bagehot den Krieg. In dem von N. gelesenen Werk Der
Ursprung der Nationen erörtert ein Kapitel unter dem Titel „Der Nutzen des
Kampfes" die Fortschrittsträchtigkeit des Krieges, der eine Zivilisation neu
dynamisiere (Bagehot 1874, 49-92).
57, 17 increscunt animi, virescit volnere virtus.] Furius Antias (wohl 1. Jh.
v. Chr.) bei Aulus Gellius: Noctes Atticae XVIII, 11, 4: „die Geister wachsen und
die Tugend ergrünt — durch eine Wunde". N. besaß die Noctes Atticae (Gellius
1875-1876, vgl. NPB 242 f.). Dort findet sich die Stelle lateinisch und in der
folgenden, umständlichen Übersetzung: „Es steigern sich die Muthbegierden,
aus Verwundung erstarkt (erblüht) Tapferkeit" (Gellius 1876, 2, 428); der origi-