Stellenkommentar GD Sprüche, KSA 6, S. 59-60 229
fahrens (vgl. Sommer 2006b u. Bett 2000, ferner sehr allgemein zum Thema
Berry 2011). Vgl. zur Rezeption NK 153, 16-18.
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60, 2 f. Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur,
von seiner Geistigkeit...] Während hier ein Gegensatz von „wilder Natur" und
„Unnatur" etabliert wird, der die gängigen moralischen Überzeugungen unter-
läuft, indem Geistigkeit mit Unnatur assoziiert und der Eindruck erweckt wird,
die zur Erholung dienende wilde Natur sei eine rational völlig unkontrollierte
Triebhaftigkeit, erscheint in N.s spätem Werk und Nachlass „Unnatur" direkt
im religions- und moralkritischen Kontext, zunächst in AC 25, bei der Ausein-
andersetzung mit der durch die „sittliche[.] Weltordnung" (KSA 6, 194, 9) legiti-
mierten, falschen Kausalitätsvorstellung, sodann in NL 1887/88, KSA 13, 11[35],
19, 24-20, 2 (korrigiert nach KGW IX 7, W II 3, 186, 50-56, im Folgenden ohne
durchgestrichene Passagen wiedergegeben) in historischer Perspektivierung
auf die Verfallsgeschichte der griechischen Kultur: „Die Geschlechtlichkeit, die
Herrschsucht, die Lust am Schein und am Betrügen, die große freudige Dank-
barkeit für das Leben und seine typischen Zustände — das ist am heidnischen
Cultus wesentlich und hat das gute Gewissen auf seiner Seite. — Die Unnatur
(schon im griechischen Alterthum) kämpft gegen das Heidnische an, als Moral,
Dialektik".
NL 1888, KSA 13, 15[113], 471, 27-472, 14 weitet das Thema „Unnatur" zu
einer Fundamentalkritik an der Moral aus: „Der gute Mensch. Oder: die
Hemiplegie der Tugend.— Für jede starke und Natur gebliebene Art
Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-
thun und Nein-thun zu einander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch
böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde.
Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppel-
heit ablehnt —, welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein?
Woher die Hemiplegie der Tugend, die Erfindung des guten Menschen? Die
Forderung geht dahin, daß der Mensch sich an jenen Instinkten verschneidet,
mit denen er Feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen
kann... Dieser Unnatur entspricht dann jene dualistische Conception eines bloß
guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch), in ersterem alle
positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summirend."
Immerhin hatte schon Heine zu bedenken gegeben: „Aber der menschliche
Genius weiß sogar die Unnatur zu verklären" (Heine 1861b, 32).
fahrens (vgl. Sommer 2006b u. Bett 2000, ferner sehr allgemein zum Thema
Berry 2011). Vgl. zur Rezeption NK 153, 16-18.
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60, 2 f. Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur,
von seiner Geistigkeit...] Während hier ein Gegensatz von „wilder Natur" und
„Unnatur" etabliert wird, der die gängigen moralischen Überzeugungen unter-
läuft, indem Geistigkeit mit Unnatur assoziiert und der Eindruck erweckt wird,
die zur Erholung dienende wilde Natur sei eine rational völlig unkontrollierte
Triebhaftigkeit, erscheint in N.s spätem Werk und Nachlass „Unnatur" direkt
im religions- und moralkritischen Kontext, zunächst in AC 25, bei der Ausein-
andersetzung mit der durch die „sittliche[.] Weltordnung" (KSA 6, 194, 9) legiti-
mierten, falschen Kausalitätsvorstellung, sodann in NL 1887/88, KSA 13, 11[35],
19, 24-20, 2 (korrigiert nach KGW IX 7, W II 3, 186, 50-56, im Folgenden ohne
durchgestrichene Passagen wiedergegeben) in historischer Perspektivierung
auf die Verfallsgeschichte der griechischen Kultur: „Die Geschlechtlichkeit, die
Herrschsucht, die Lust am Schein und am Betrügen, die große freudige Dank-
barkeit für das Leben und seine typischen Zustände — das ist am heidnischen
Cultus wesentlich und hat das gute Gewissen auf seiner Seite. — Die Unnatur
(schon im griechischen Alterthum) kämpft gegen das Heidnische an, als Moral,
Dialektik".
NL 1888, KSA 13, 15[113], 471, 27-472, 14 weitet das Thema „Unnatur" zu
einer Fundamentalkritik an der Moral aus: „Der gute Mensch. Oder: die
Hemiplegie der Tugend.— Für jede starke und Natur gebliebene Art
Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-
thun und Nein-thun zu einander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch
böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde.
Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppel-
heit ablehnt —, welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein?
Woher die Hemiplegie der Tugend, die Erfindung des guten Menschen? Die
Forderung geht dahin, daß der Mensch sich an jenen Instinkten verschneidet,
mit denen er Feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen
kann... Dieser Unnatur entspricht dann jene dualistische Conception eines bloß
guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch), in ersterem alle
positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summirend."
Immerhin hatte schon Heine zu bedenken gegeben: „Aber der menschliche
Genius weiß sogar die Unnatur zu verklären" (Heine 1861b, 32).