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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0252
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Stellenkommentar GD Sprüche, KSA 6, S. 60 233

n'estre ny ange ny Caton. Mes actions sont reiglees et conformes ä ce que ie
suis et ä ma condition; ie ne puis faire mieulx: et le repentir ne touche pas
proprement les choses qui ne sont pas en nostre force; ouy bien le regretter."
(Montaigne 1864, 420. „Ich kann wohl wünschen, daß ich überhaupt anders
wäre; ich kann mir meinen ganzen Zustand misfallen lassen; und Gott bitten,
daß er mich von Grund aus ändere, und meine natürliche Schwachheit über-
sehe: allein, dieß ist eben so wenig eine Reue zu nennen, als wenn es mich
betrübt, daß ich kein Engel oder kein Cato bin. Meine Handlungen sind mei-
nem Wesen und meinen Umständen nach regelmäßig. Ich kann es nicht besser
machen: die Reue erstreckt sich aber nur auf solche Handlungen, die in unse-
rer Gewalt stehen." — Montaigne 1753-1754, 2, 789) Montaigne beschränkt den
Gegenstandsbereich der Reue auf Handlungen, aber klammert solche aus, die
wegen äußerer Umstände missglückt sind (Montaigne 1864, 420 f.; Montaigne
1753-1754, 2, 791) — und überdies „toutes affaires, quand ils sont passez" (Mon-
tagine 1864, 421. „Bey allen geschehenen Sachen bin ich, sie seyn wie sie
wollen, unbekümmert." — Montaigne 1753-1754, 2, 792). Was der Reue bei
Montaigne an praktischen Möglichkeiten bleibt, ist allenfalls ein Gefühl von
Selbstverdruss, das Selbsterkenntnis herbeiführen kann. Auch Spinoza steht
dem Affekt der Reue, da vernunftwidrig, kritisch gegenüber (vgl. Baruch de
Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata IV, prop. 54 und III, prop. 30
schol.; ferner mit anderer Akzentuierung Fischer 1865, 2, 379).
N. zieht in 60, 14-16 nur die äußerste Konsequenz aus Überlegungen, wie
er sie beispielsweise bei Montaigne gefunden haben mag, insofern er die
völlige Unangemessenheit von Gewissensbissen auch gegenüber den eigenen
Handlungen behauptet und damit mit dem Gedanken der Lebens- und Wil-
lensbejahung ernst macht. Vgl. zu 60, 14-16 auch MA II WS 323, KSA 2, 695,
19-21 („Niemals der Reue Raum geben, sondern sich sofort sagen: diess
hiesse ja der ersten Dummheit eine zweite zugesellen."); NL 1887/88, KSA 13,
ll[102], 50, 12-14 (KGW IX 7, W II 3, 152, 12-14) und NL 1888, KSA 13, 15[118],
478, 8-10. Dass der „Gewissensbiss" Ausdruck einer verfehlten, die Wirklich-
keit verleugnenden christlichen Ideologie sei, erwähnt N. zeitgleich in AC 15
(KSA 6, 181, 23), während er in EH Warum ich so klug bin 1, KSA 6, 278, 8-
16 dem Thema eine autobiographische Wendung gibt: „Insgleichen fehlt mir
ein zuverlässiges Kriterium dafür, was ein Gewissensbiss ist: nach dem, was
man darüber hört, scheint mir ein Gewissensbiss nichts Achtbares... Ich
möchte nicht eine Handlung hinterdrein in Stich lassen, ich würde vor-
ziehn, den schlimmen Ausgang, die Folgen grundsätzlich aus der Werthfrage
wegzulassen. Man verliert beim schlimmen Ausgang gar zu leicht den richti-
gen Blick für Das, was man that: ein Gewissensbiss scheint mir eine Art
,böser Blick'." Im Kontext einer Kritik an der decadence-Religion und ihrem
 
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