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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0279
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260 Götzen-Dämmerung

falls von der decadence betroffen sind. Damit wird sowohl das geläufige, posi-
tive Sokratesbild als auch das Bild des vermeintlich klassischen Zeitalters in
Athen konterkariert, das nun als Epoche des Niedergangs erscheint. Dessen
Symptom ist ein blinder Glaube an die Integrationskraft der Vernunft. Rückbli-
ckend auf „Sprüche und Pfeile" ließe sich fragen, ob N. nicht gerade jene von
ihm bei Sokrates als Selbstermächtigungsmittel gegeißelte Dialektik virtuos
anwendet und zugleich durch das Nicht-Geben(-Wollen) von Gründen unter-
läuft. „Sprüche und Pfeile" zeigen keine gedankliche Einheit, die man als Syn-
thetisierungsleistung der Vernunft ausweisen könnte (vgl. auch die Kritik am
Systemdenken in GD Sprüche und Pfeile 26). Überhaupt scheint sich dort im
Unterschied zu der in sich geschlossenen Sokrates-Abhandlung keine Einheit
bilden zu wollen, so dass „Sprüche und Pfeile" als unfreiwillige (?) Manifesta-
tion der decadence erscheinen könnten (vgl. auch NK ÜK im Blick auf den
Patchworkcharakter von GD insgesamt) — womöglich als Ausdruck einer Iro-
nie, die die Ironie des Sokrates als „Ausdruck von Revolte" (GD Das Problem
des Sokrates 7, KSA 6, 70, 20) konterkariert. Die Kritik an Sokrates impliziert
eine Kritik an der Philosophie überhaupt, die als zutiefst fragwürdiges Unter-
nehmen, nämlich als Dekadenzerscheinung entlarvt werden soll. Insgesamt
versucht das Kapitel „Das Problem des Sokrates" selbst, die dialektische
Methode des Sokrates, die für alles Gründe sucht und findet, zu hintertreiben
und wendet stattdessen Diskurstechniken der Pathologisierung und Ästhetisie-
rung an: Für die jeweiligen Urteile werden gerade die Gründe verweigert.
Besonders deutlich ist dies in den der Dialektik gewidmeten Abschnitten 5 bis
7 (KSA 6, 69, 23-70, 29; schon im Frühwerk steht N. der Dialektik des Sokrates
ablehnend gegenüber, vgl. z. B. NK KSA 1, 101, 5-7). Ob N. sich und sein eige-
nes Schreiben hier dem Diktat der Dialektik tatsächlich entziehen kann oder
sie doch nur travestiert, ist eine offene Frage. Stehen ihm denn andere Waffen
als die Dialektik zu Gebote (vgl. KSA 6, 70, 14 f.)? Immerhin beansprucht N. in
EH Warum ich so weise bin 1 (KSA 6, 265, 10-15) für sich selbst „Dialektiker-
Klarheit" und weist auf sein eigenes Verständnis der Sokratischen Dialektik
„als Decadence-Symptom" hin. Besteht ein allfälliger Dialektik-Verzicht in GD
Das Problem des Sokrates nur darin, auf letzte Vernunfterkenntnis zu verzich-
ten und keine Befriedigung widersprechender Ansprüche gelten zu lassen, also
keinem Vernunftzwang des „besten" Arguments zu gehorchen? (Von der ortho-
dox marxistischen Geschichtsschreibung der Dialektik werden die von N. als
fundamental verstandenen Einwände gegen dialektisches Denken übrigens
nicht zur Kenntnis genommen, vgl. z. B. Holz 2011, 5, 553-558).
Mit einer Abhandlung „Das Problem des Sokrates" hätte gemäß einem
Plan zum „Willen zur Macht" ein Kapitel über „Philosophie als decadence"
beginnen sollen (KSA 14, 413, vgl. NL 1888, KSA 13, 14[111], 288 f. = KGW IX 8,
 
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