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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0283
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264 Götzen-Dämmerung

gens: wenn alle Völker über gewisse religiöse Dinge, zum Beispiel die Existenz
eines Gottes, übereinstimmten (was, beiläufig gesagt, in Betreff dieses Punctes
nicht der Fall ist), so würde diess doch eben nur ein Gegenargument gegen
jene behaupteten Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes sein: der con-
sensus gentium und überhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit
gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht, in
Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der Goe-
the'sche Vers spricht: Alle die Weisesten aller der Zeiten / lächeln und winken
und stimmen mit ein: / Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harren! / Kinder
der Klugheit, o habet die Narren / eben zum Narren auch, wie sich's gehört! //
Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der con-
sensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer Narrheit
gilt." (MA I 110, KSA 2, 111, 15-32) In MA I 110 schlägt sich N. in anderem
Zusammenhang also auf die Seite der Weisen, deren Übereinstimmung er in
GD Das Problem des Sokrates 1-2 demgegenüber für ein verdächtiges Verfalls-
symptom hält.
Die Idee eines consensus sapientium geht auf die antike Philosophie
zurück, namentlich auf die Topik des Aristoteles, wonach die Berufung auf
die Übereinstimmung mit den Weisen oder Schlüsse aus allgemein für wahr
gehaltenen Annahmen (evöo@) zwar keine Beweise im strikten Sinn seien,
jedoch in der Wissenschaft trotzdem nutzbringend sein könnten (Topik I 1,
100b 20 ff.).
67, 15 Weisesten aller Zeiten) Nach Johann Wolfgang von Goethes Gedicht
Kophtisches Lied (1827) Z. 3, vgl. NK 67, 12 f.
67, 18 decadents] Schon vor der Lektüre von Paul Bourgets Essais de psycholo-
gie contemporaine (1883) benutzt N. das Wort decadence gelegentlich (vgl. NL
1876/77, KSA 8, 23[140], 454, 14; N. an Overbeck, 05. 09. 1881, KSB 6, Nr. 146,
S. 127, Z. 11-13: „Ich habe schlimme Zustände durchgemacht, es trat, unter
der Einwirkung des geradezu bösartigen und tollen Wetters, eine allgemeine
decadence ein.") im allgemeinen Sinne von Verfall, während er dann im
Anschluss an Bourget unter decadence vor allem die zeittypische Unfähigkeit,
eine Einheit zu schaffen, begreift. Diese zunächst kulturdiagnostische Bedeu-
tung von decadence, aus deren Wortfeld es im Nachlass und in den veröffent-
lichten Schriften Hunderte von Belegen gibt, wird im Spätwerk noch einfach
transformiert, und zwar zu einem physiologischen Niedergang, der naturwis-
senschaftlich erhebbar, ja messbar zu sein scheint. Der Begriff der decadence
wird dann weitgehend kongruent mit dem der Degenerescenz, vgl. NK 71, 14,
zur Begriffsgeschichte NK KSA 6, 11, 21 f.
Decadents erscheinen im Spätwerk als Niedergangstypen, deren Wille
gebrochen ist und die daher den Willen zum Nichts kultivieren. Sie stehen
 
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