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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0294
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Stellenkommentar GD Sokrates, KSA 6, S. 69 275

seine Philosophie erfunden hat, selbst historisch bedingt und nicht einfach
natürlich gegeben waren, zeigt 69, 22 dadurch an, dass es eben Instinkte des
vorsokratischen Griechen gewesen seien, gegen die sich die Gleichsetzung von
Vernunft, Tugend und Glück gerichtet habe. Diese Überlegung ist in N.s Vorle-
sung Die vorplatonischen Philosophen (1869-1876) präludiert, derzufolge bei
Sokrates eine „Lösung von den moralischen Instinkten" stattgefunden habe —
Instinkte, die nichts anderes als die „in Formeln gebrachte überall in Griechen-
land geachtete u. lebendige praktische Moral" gewesen sind (KGW 11/4, 354).
Zum Instinkt vgl. NK 90, 3-8. In Mp XVI 4 folgt auf den Schluss des Abschnitts
69, 22 „alle Instinkte des älteren Hellenen gegen sich hat" noch: „(Die ältere
Gleichung lautet: Tugend = Instinkt = Grund-Unbewußtheit)" (KSA 14, 413 f.).
Die Kontinuität von altem griechischen Instinkt und Sokratismus hat demge-
genüber insbesondere Leopold Schmidt in seiner von N. intensiv rezipierten
Ethik der Griechen (1882) behauptet, vgl. NK 157, 22-25.
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Zu den Abschnitten 5 bis 7 (69, 23-70, 29) findet sich in W II 5, 85 folgende
abweichende Fassung: „Socrates - Plato - Dialectiker / Dieser Umschlag des
Geschmacks zu Gunsten der Dialektik ist ein cardinales Faktum. Sokrates, der
Roturier, der ihn durchsetzte, kam mit ihr über einen vornehmen Geschmack,
den Geschmack der Vornehmen, zum Sieg. Die Heraufkunft der Dialektik
bedeutet die Heraufkunft des Pöbels. Allein, was Aristokrat von Instinkt ist,
widersteht der Etalage von Gründen: Man hat die Autorität, die Autorität
befiehlt... Man glaubt auch nicht an Dialektik. Alle guten Dinge haben ihre
Gründe nicht in der Hand. Was sich beweisen läßt, ist wenig werth. Dialektik
ist unanständig... Daß Dialektik Mißtrauen erregt, daß sie wenig überzeugt,
weiß die Klugheit aller Redner(,) aller Parteien. Dialektik kann nur eine Noth-
wehr sein: man muß in der Noth sein, um sich Recht zu erzwingen:
eher macht man keinen Gebrauch von Dialektik... Der Jude ist Dialektiker: und
Sokrates war es. Man hat ein schonungsloses Werkzeug in der Hand: man
widerlegt, indem man den Verstand seines Gegners bloßstellt, man verhöhnt
ihn, indem man ihn hülflos macht, man überläßt seinem Opfer den Beweis,
kein Idiot zu sein... ach, -" (KGW IX 8, W II 5, 85, 1-26, vgl. KSA 14, 414).
Die spätere, von N. überarbeitete Version derselben Stelle lautet (KGW IX
8, W II 5, 109): „Dieser Umschlag des Geschmacks zu Gunsten der Dialektik
ist ein großes Fragezeichen. Was geschah eigentlich? Sokrates der Roturier, der
ihn durchsetzte, kam mit ihr über einen vornehmen Geschmack, den
Geschmack der Vornehmen: der Pöbel kam mit der Dialektik zum Sieg.
 
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