Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0296
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar GD Sokrates, KSA 6, S. 69 277

die Intelligenz seines Gegners. - [...] Die Ironie des Dialektikers ist eine Form
der Pöbel-Rache: Die Unterdrückten haben ihre Ferocität in den kalten Messer-
stichen des Syllogismus..."
69, 24-70, 3 Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der
Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor Allem wird damit ein vorneh-
mer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokra-
tes lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie gal-
ten als schlechte Manieren, sie stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen.
Auch misstraute man allem solchen Präsentiren seiner Gründe. Honnette Dinge
tragen, wie honnette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist unan-
ständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muss, ist wenig
werth.] Diesen Umbruch in der griechischen Mentalität hat z. B. auch Zeller
1859, 2, 30 deutlich artikuliert, wenn auch ohne Präferenz fürs Vordialektische
und ohne den in 69, 24 ff. auffälligen Übergang von der im vorhergehenden
Abschnitt dominierenden medizinischen zu einer ästhetischen Metaphorik:
„Der Begriff eines Gegenstands wird aber nur dadurch gewonnen, dass man
seine verschiedenen Seiten und Eigenschaften zusammenfasst, ihre scheinba-
ren Widersprüche ausgleicht, das Bleibende daran von dem Wechselnden
unterscheidet, mit Einem Wort durch jenes dialektische Verfahren, welches
Sokrates aufgebracht, Plato und Aristoteles näher begründet und entwickelt
haben. Waren daher die Früheren einseitig von einzelnen hervorragenden
Eigenschaften der Dinge ausgegangen, um nach diesen ihr Wesen zu bestim-
men, so wird jetzt verlangt, dass jedem Urtheil über einen gegebenen Gegen-
stand die allseitige Erwägung und Vergleichung seiner sämmtlichen Eigen-
schaften vorangehe: an die Stelle des Dogmatismus tritt die Dialektik." Nach
Zeller 1859, 2, 354 soll dann erst die Platonische Dialektik sehr im Unterschied
zur Sokratischen der „Systembildung" dienen; sie sei bei Platon „Schlussstein"
„aller Wissenschaften" (Zeller 1859, 2, 405). Bereits in N.s früher Kritik an
Sokrates spielt die zersetzende Kraft der Dialektik eine Rolle (vgl. z. B. ST, KSA
1, 545, 12-546, 2); Sokrates gilt als „Fanatiker der Dialektik" (NL 1869, KSA 7,
1[44], 22, 5). Vgl. auch Brochard 1887, 23: „La dialectique etait la seule methode
qui lui convint." („Die Dialektik war die einzige Methode, die ihm [sc. Sokrates]
entsprach.") Dass der „Pöbel" (mittels Dialektik) obenauf komme, ist eine
Variation des Gedankens eines „Sklavenaufstand[es] in der Moral" (GM I 10,
KSA 5, 270, 25).
69, 26 vornehmer Geschmack] Vornehmheit ist ein Thema, das N. nachhal-
tig beschäftigt, vgl. z. B. JGB Neuntes Hauptstück: was ist vornehm?, KSA 5,
205-240.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften