Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0298
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GD Sokrates, KSA 6, S. 69-70 279

7
70, 20 Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte?) Zeller 1859, 2, 89
bestimmt die Ironie des Sokrates „als das dialektische oder kritische Moment
des sokratischen Verfahrens".
70, 21 Pöbel-Ressentiment] Der Begriff des Ressentiments ist zentral in N.s
moralgenealogischem Unternehmen. Den Begriff notiert er sich erstmals 1875
im großen Exzerpt zu Dührings Werth des Lebens (NL 1875, KSA 8, 9[1], 176,
17-19), bevor er ihn dann in GM I 10 als Leitbegriff einführt: „Der Sklavenauf-
stand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpfe-
risch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die
eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imagi-
näre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem trium-
phirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von
vornherein Nein zu einem ,Ausserhalb', zu einem ,Anders', zu einem ,Nicht-
selbst': und dies Nein ist ihre schöpferische That." (KSA 5, 270, 25-271, 1)
Systematisch rekonstruiert Risse 2003 den Ursprung des Ressentiments nach
N., vgl. auch Hatab 2008, 62-66.
N.s Überlegungen zum Ressentiment wurden im 20. Jahrhundert beispiels-
weise bei Max Scheler aufgegriffen und sowohl für die Zeitkritik wie für moral-
philosophische Grundlegungsanstrengungen benutzt (Scheler 1978). Gilles
Deleuze 2008, 122-160 widmet dem Ressentiment-Problem eine einflussreiche
Analyse, die das Ressentiment als Überhandgewinnen reaktiver Kräfte versteht
(dazu kritisch Brusotti 2001, 111 f. Vgl. auch Altmann 1977 u. NH 312 f. [Miguel
Skirl]).
70, 23-25 Man hat, als Dialektiker, ein schonungsloses Werkzeug in der Hand;
man kann mit ihm den Tyrannen machen; man stellt bloss, indem man siegt]
Diese Beschreibung der Dialektik als gefährlicher Angriffswaffe kontrastiert
mit GD Das Problem des Sokrates 6, KSA 6, 70, 14 f., wo sie als Defensivwaffe,
als letztes Mittel sonst Wehrloser erscheint.
70, 25-28 Der Dialektiker überlässt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot
zu sein: er macht wüthend, er macht zugleich hülflos. Der Dialektiker depoten-
zirt den Intellekt seines Gegners.] Der sich in 70, 23-25 andeutende, hier ausge-
führte Umschwung ist jäh: Zunächst noch als ein Mittel der Notwehr beschrie-
ben, ist die Dialektik nun zur völligen Entmachtung des Gegenübers fähig —
dient also nicht länger zur Selbststabilisierung des decadent-Individuums
Sokrates, sondern dem gesellschaftlichen Umsturz. Dass die Athener offen-
sichtlich so leicht in die Knie gezwungen werden können — und die Dialoge
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften