Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0304
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar GD Vernunft, KSA 6, S. 72-73 285

12
73, 14-16 Sokrates wollte sterben: — nicht Athen, er gab sich den Giftbecher,
er zwang Athen zum Giftbecher...] Ähnlich heißt es in Jacob Burckhardts Griechi-
scher Kulturgeschichte: „Sokrates aber selbst wollte tatsächlich den Tod, wenn
gleich in Platons Phädon (p. 61 f.) der Selbstmord von ihm mißbilligt wird."
(Burckhardt 1931, 10, 356, siehe auch Platon: Apologie 34c-35b; Kriton u. Xeno-
phon: Memorabilien IV 8, 6). Vgl. NK 135, 16-22 zur Selbstabschaffung der
decadents.
73, 16 f. „Sokrates ist kein Arzt, sprach er leise zu sich: der Tod allein ist hier
Arzt... Sokrates selbst war nur lange krank..."] Am Ende wäre Sokrates also aus
Einsicht in seine unheilbare Dekadenz aus dem Leben geschieden (und würde
sich damit gemäß dem delphischen Orakelspruch tatsächlich als der Weiseste
erweisen). N. nimmt damit die Formel GD Das Problem des Sokrates 1, KSA 6,
67, 7 f. wieder auf und führt Sokrates zur Erkenntnis, dass nicht das Leben
eine Krankheit sei, sondern nur sein Leben. Die Variation des Anfangs schließt
die strenge Komposition des ganzen Kapitels. Die Rücknahme des salvatorisch-
therapeutischen Anspruchs der Vernunft, die als Selbstzurücknahme des
Sokrates dargestellt wird, erscheint selbst wiederum als dialektische Meister-
leistung — sowohl des Sokrates wie N.s. Vgl. zur Metaphorik des Arztes bei N.
im Zusammenhang mit Sokrates NK 72, 22 f. u. NWB 1, 145 f., zur bußtheologi-
schen Tradition der Arztmetapher NK KSA 6, 174, 14 f.

Die „Vernunft" in der Philosophie
Auch dieses Kapitel hängt mit N.s Plänen zum „Willen zur Macht" zusammen,
vgl. Montinari 1984, 73. In Mp XVI 4 lautete der Titel des Kapitels „Philosophie
als Idiosynkrasie", in Heft W II 5, 72 „Die wahre und die scheinbare Welt"
(KGW IX 8, W II 5, 72, 1, vgl. KSA 14, 414 u. Brochard 1887, 6: „l'eleatisme
commengait par declarer que le monde, tel que nous le voyons, n'est qu'une
apparence". „Der Eleatismus setzte bei der Behauptung ein, dass die Welt,
wie wir sie sehen, bloß eine Erscheinung sei."). Der erste Abschnitt stellt die
Philosophie als ein Unternehmen dar, welches das Werden zugunsten eines
imaginierten, unwandelbaren Seienden leugnet und zu diesem Zweck die Sinn-
lichkeit und den Leib verteufelt, die dieses Werden vorgaukelten. Die Leugnung
des Werdens impliziert bei den Philosophen, die als „Begriffs-Götzendiener"
(74, 10 f.) bezeichnet werden, auch eine scharfe Wendung gegen Geschichte
und Geschichtlichkeit. N. stellt fest, dass Philosophie „enthistorisire[.]" (74,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften