298 Götzen-Dämmerung
„Wir" ist in N.s Werken nicht häufig. Die „Wir" leiten hier einen Perspektiven-
wechsel und einen ausdrücklichen Positionsbezug gegen die herrschende phi-
losophische Tradition ein.
77, 7-9 Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil
uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzu-
setzen] Eine Radikalisierung der Erkenntniskritik Kants hatte N. in Afrikan
Spirs Denken und Wirklichkeit kennengelernt. Spir argumentierte, die Erfah-
rungsdaten könnten prinzipiell mit dem logischen Identitätssatz nicht überein-
stimmen — einem Satz, nach dem jeder Gegenstand mit sich selbst identisch
sei, während in der Erfahrung kein Gegenstand zu erkennen wäre, der diese
Identität aufweist. Der Identitätssatz sei unmittelbar gewiss, aber wenn man
ihn mit den ihm widerstreitenden Erfahrungsdaten zusammenstelle, ergäben
sich die Grundsätze der Substanzbeharrlichkeit und der Kausalität (Spir 1877,
1 u. 2). Die Wirklichkeitserfahrung wird bei Spir dem Primat der Vernunft
unterworfen — einem Primat, der schließlich eine Welt des Unbedingten jen-
seits aller Relativität zu postulieren erlaubt. Dagegen polemisiert N., der es mit
den bei Brochard 1887 präsentierten Skeptikern hält, die die Erkenntniskraft
der Vernunft gleichfalls hinterfragen. Zu N. und Spir siehe D'lorio 1993b u.
Small 2001, 1-20.
77, 9-12 uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitirt zum
Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber
sind, dass hier der Irrthum ist.] Das Hauptproblem, das sich aus Stellen wie
diesen ergibt, ist das der Selbstanwendung: Auch N. selbst ist auf Sprache
angewiesen, auch sein Denken hat sprachliche Gestalt und kann damit einer
bestimmten Metaphysik nicht entkommen. So könnte jeder Zugang zu N.s
„wahrer Philosophie" (Löw 1984, 5) versperrt sein. N.s Metaphysik- und
Sprachkritik würde sich, da selbst sprachförmig, selbst aufzuheben drohen.
Zur dialektischen Rettung der „wahren Philosophie" N.s auf Grundlage von 77,
9-12 setzt Dellinger 2009 an.
77, 12-14 Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen
Gestirns: bei ihnen hat der Irrthum unser Auge] D. h. wir sehen die Sonne auf-
und untergehen, was sie bekanntlich nicht tut.
77, 15-26 Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärs-
ten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn
wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der
Vernunft, zum Bewusstsein bringen. Das sieht überall Thäter und Thun: das
glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an's „Ich", an's Ich als Sein,
an's Ich als Substanz und projicirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle
„Wir" ist in N.s Werken nicht häufig. Die „Wir" leiten hier einen Perspektiven-
wechsel und einen ausdrücklichen Positionsbezug gegen die herrschende phi-
losophische Tradition ein.
77, 7-9 Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil
uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzu-
setzen] Eine Radikalisierung der Erkenntniskritik Kants hatte N. in Afrikan
Spirs Denken und Wirklichkeit kennengelernt. Spir argumentierte, die Erfah-
rungsdaten könnten prinzipiell mit dem logischen Identitätssatz nicht überein-
stimmen — einem Satz, nach dem jeder Gegenstand mit sich selbst identisch
sei, während in der Erfahrung kein Gegenstand zu erkennen wäre, der diese
Identität aufweist. Der Identitätssatz sei unmittelbar gewiss, aber wenn man
ihn mit den ihm widerstreitenden Erfahrungsdaten zusammenstelle, ergäben
sich die Grundsätze der Substanzbeharrlichkeit und der Kausalität (Spir 1877,
1 u. 2). Die Wirklichkeitserfahrung wird bei Spir dem Primat der Vernunft
unterworfen — einem Primat, der schließlich eine Welt des Unbedingten jen-
seits aller Relativität zu postulieren erlaubt. Dagegen polemisiert N., der es mit
den bei Brochard 1887 präsentierten Skeptikern hält, die die Erkenntniskraft
der Vernunft gleichfalls hinterfragen. Zu N. und Spir siehe D'lorio 1993b u.
Small 2001, 1-20.
77, 9-12 uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitirt zum
Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber
sind, dass hier der Irrthum ist.] Das Hauptproblem, das sich aus Stellen wie
diesen ergibt, ist das der Selbstanwendung: Auch N. selbst ist auf Sprache
angewiesen, auch sein Denken hat sprachliche Gestalt und kann damit einer
bestimmten Metaphysik nicht entkommen. So könnte jeder Zugang zu N.s
„wahrer Philosophie" (Löw 1984, 5) versperrt sein. N.s Metaphysik- und
Sprachkritik würde sich, da selbst sprachförmig, selbst aufzuheben drohen.
Zur dialektischen Rettung der „wahren Philosophie" N.s auf Grundlage von 77,
9-12 setzt Dellinger 2009 an.
77, 12-14 Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen
Gestirns: bei ihnen hat der Irrthum unser Auge] D. h. wir sehen die Sonne auf-
und untergehen, was sie bekanntlich nicht tut.
77, 15-26 Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärs-
ten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn
wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der
Vernunft, zum Bewusstsein bringen. Das sieht überall Thäter und Thun: das
glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an's „Ich", an's Ich als Sein,
an's Ich als Substanz und projicirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle