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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0322
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Stellenkommentar GD Vernunft, KSA 6, S. 78-79 303

von Sein, Ich und Gott dem mangelhaften Funktionieren der Sprache angelas-
tet wird. Nach Motiven zu suchen, würde nach der dort unternommenen
Sprachkritik gerade bedeuten, einen Täter anzunehmen, der aber doch nur
Fiktion wäre. Damit würde auch die Rede von den „Wir", die sich „am Leben"
„rächen" (78, 30) wollen, hinfällig: Diese „Wir" gibt es nicht; sie sind ein
Sprachprodukt. Die Spannung zwischen den beiden Stoßrichtungen der Kritik
zeigt, dass es N. nicht um ein kohärentes System der Kritik zu tun ist, sondern
darum, den Widerspruch herauszufordern (so 78, 17), und zwar mit allen Mit-
teln.
78, 27 f. Von einer „andren" Welt als dieser zu fabeln] Zur „Fabel" der „wahren
Welt" vgl. NK zu GD Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde (KSA 6,
80 f.).
79, 1-5 Die Welt scheiden in eine „wahre" und eine „scheinbare", sei es in der
Art des Christenthums, sei es in der Art Kant's (eines hinterlistigen Christen
zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der decadence, — ein Symptom niederge-
henden Lebens...] Vgl. NK 80, 13-18 und NK KSA 6, 176, 21-177, 5. JGB 34, KSA
5, 53, 31-54, 2 gibt sich liberaler: „Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme,
dass es einen wesenhaften Gegensatz von ,wahr' und ,falsch' giebt? Genügt es
nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunk-
lere Schatten und Gesammttöne des Scheins, — verschiedene valeurs, um die
Sprache der Maler zu reden?"
79, 5-10 Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein
Einwand gegen diesen Satz. Denn „der Schein" bedeutet hier die Realität noch
einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur... Der tragische Künstler
ist kein Pessimist, — er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren
selbst, er ist dionysisch...] Der Künstler, der hier zum ersten Mal in diesem
Kapitel vorkommt und es zugleich beschließt, wird zu einer positiven Gegenin-
stanz der decadence-Philosophen, obwohl er sich der Schrecklichkeit des
Daseins nicht entzieht und selber Scheinproduzent ist — aber eben eines Schei-
nes, der die empirische Wirklichkeit verstärkt statt negiert. Aus welcher Ver-
senkung der Künstler als eine aktive Gestalt nun plötzlich auftauchen kann,
wenn es eigentlich keine „Thäter" (77, 19) mehr gibt, bleibt offen — ebenso,
worin das spezifisch Tragische dieser Künstlerschaft besteht außer in der trotzi-
gen Weltbejahung trotz dominierender Übel (vgl. im Hinblick auf GT dazu Goe-
dert 2008). In einer Vorarbeit NL 1888, KSA 13, 14 [168], 355, 5-11 (KGW IX 8,
W II 5, 37, 49-60) blieb die Frage, ob der tragische Künstler ein Pessimist sei,
immerhin noch offen. Zum tragischen Künstler beim späten N. vgl. NK 118, 24-
28; Tongeren 1996, Schwab 2011 u. Sommer 2011e.
 
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