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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0333
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314 Götzen-Dämmerung

willensschwach zu einer mässigen Maßregel sind: — die Naturen, wel-
che la Trappe nöthig haben, irgend eine excessive und endgültige Feindschafts-
Erklärung zwischen sich und einer Passion... Darin drückt sich ein sehr
gewöhnlicher Typus der Degenerescenz aus. Er ist häufig bei sogenannten Pes-
simisten: es ist z. B. der Typus Sch(openhauer) in seinem Verhältniß zur
Geschlechtlichkeit. Eine persönl(iche) Unfähigkeit, hundert Mal erprobt und
eingestanden, hier über sich Herr zu werden, macht zuletzt eine habituelle
Rancune gegen das, was hier Herr wird — das ist begreiflich, wenn auch
durchaus noch nicht philosophisch... Der Haß kommt auf seine Spitze, wenn
solche Naturen selbst zu jenem extremen Mittel, der Absagung von ihrem ,Teu-
fel', nicht Willenskraft genug haben; die giftigste Feindschaft gegen die Sinne
in der ganzen Geschichte der Philos(ophie) und Kunst kommt nicht von den
,Impotenten', auch nicht von den Asceten, sondern von den unmöglichen
Asceten, die aber nöthig hätten Asceten zu sein... Der Christliche August(in)us
ist nichts als eine Rache an seinem überwundenen ,Teufel' der zügellose Tri-
umph der Rache eines beinahe unmöglichen Asketen... Die Vergeistigung der
Feindschaft liegt darin, daß man tief den Werth begreift, den es hat, Feinde
zu haben; kurz daß man umgekehrt thut und schließt, als man ehemals
schloß, wo die Feindschaft noch stupid war — ehemals wollte man die Vernich-
tung des Feindes: jetzt hat man ein Interesse an der Erhaltung seines Fein-
des — Es gibt Schöpfungen, welche wie das neue deutsche Reich, erst durch
eine Art dumpfen Haß sich selbst nothwendig erscheinen — damit das Artifi-
cium in Anbetracht seiner Entstehung allmählich vergessen wird. Dasselbe gilt
von dem innerlichen Antagonismus: wer den Frieden der Seele um den Preis
erkauft, daß er seine Seele einfach annullirt (aushungert, ausstreift,
abschafft...) gehört zum ,alten Spiel' — und versteht sich nicht auf sein oberstes
Interesse. Alle starken Naturen wissen, daß sie Widersprüche im Leibe
haben, — und daß ihre Fruchtbarkeit und Unerschöpfbarkeit an dem ewigen
Kampfe hängt, wegen dem der berühmte ,Frieden der Seele' ausgeschlossen
(ist). Das gilt von Staatsmännern, wie von Artisten... Man ist bewiesen als deca-
dent, wenn man den Frieden der Seele höher schätzt als den Krieg, als das
Leben, als die Fruchtbarkeit... Oder anders ausgedrückt: weil man sich
unfruchtbar fühlt, wählt man den Frieden..." (KSA 14, 415 f.).
Auffällig am Kapitel „Moral als Widernatur" ist die durchgehende morali-
sche Argumentationsweise, nämlich die Verunglimpfung der asketischen und
christlichen Moralformen als schlecht, weil sie den Lebensinteressen wider-
streiten. Das (aufsteigende) Leben fungiert dabei als Maßstab des Urteilens. Es
scheint, als würde damit nur eine Moral (nämlich eine lebensbejahende) einer
anderen (nämlich einer lebensverneinenden) entgegengesetzt. Da der
Anspruch des Kapitels darüberhinaus aber als Problematisierung von Moral
 
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