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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0336
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Stellenkommentar GD Moral, KSA 6, S. 82 317

anrüchigen und laienhaften Glauben an eine Universalmedicin ergeben. Er
gleicht in seiner Methode mitunter jenem Zahnarzte, der jeden Schmerz durch
Ausreissen des Zahnes heilen will; so zum Beispiel indem er gegen die Sinn-
lichkeit mit dem Rathschlage ankämpft: ,Wenn dich dein Auge ärgert, so reisse
es aus.' — Aber es bleibt doch noch der Unterschied, dass jener Zahnarzt
wenigstens sein Ziel erreicht, die Schmerzlosigkeit des Patienten; freilich auf
so plumpe Art, dass er lächerlich wird: während der Christ, der jenem Rath-
schlage folgt und seine Sinnlichkeit ertödtet zu haben glaubt, sich täuscht: sie
lebt auf eine unheimliche vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen
Vermummungen." (MA II WS 83, KSA 2, 589, 25-590, 9) In der „Psychologie
des Erlösers" (AC 28, KSA 6, 198, 32) werden demgegenüber alle Züge
getilgt, die Jesus als Opponenten der Sinnlichkeit erscheinen lassen könnten;
sein Unvermögen zur Feindschaft hält seine Augen und Ohren unverwandt
offen.
82, 18-20 Wir bewundern die Zahnärzte nicht mehr, welche die Zähne aus-
reissen, damit sie nicht mehr weh thun...] N. nimmt hier Überlegungen aus
MA II WS 83 wieder auf, vgl. NK 82, 14.
82, 20-23 Mit einiger Billigkeit werde andrerseits zugestanden, dass auf dem
Boden, aus dem das Christenthum gewachsen ist, der Begriff „Vergeistigung
der Passion" gar nicht concipirt werden konnte.] Das frühe Christentum gilt als
Beweis für die lebensfeindliche Bestrebung, die Leidenschaften — „Passion"
im Singular wird dazu synonym verwendet — nicht zu transformieren und
zu sublimieren, sondern sie auszurotten. Insbesondere in AC erscheint das
Christentum als Produkt der niedrigsten Stände, deren Geistfeindschaft für N.
zu den Grundgegebenheiten gehört. Quellen für diese Sicht des Christentums
sind u. a. Dostojewskij, Wellhausen und Renan.
N. adaptiert den Begriff „Vergeistigung der Passion" aus Jacob Burck-
hardts Cultur der Renaissance (1860): „Wenn man nun der Liebesmoral der
Renaissance näher nachgeht, so findet man sich betroffen von einem merkwür-
digen Gegensatz in den Aussagen. Die Novellisten und Komödiendichter
machen den Eindruck, als bestände die Liebe durchaus nur im Genüsse und
als wären zu dessen Erreichung alle Mittel, tragische wie komische, nicht nur
erlaubt, sondern je kühner und frivoler, desto interessanter. Liest man die bes-
sern Lyriker und Dialogenschreiber, so lebt in ihnen die edelste Vertiefung und
Vergeistigung der Leidenschaft, ja der letzte und höchste Ausdruck derselben
wird gesucht in einer Aneignung antiker Ideen von einer ursprünglichen Ein-
heit der Seelen im göttlichen Wesen. Und beide Anschauungen sind damals
wahr und in einem und demselben Individuum vereinbar." (Burckhardt 1930a,
5, 317) Vgl. NK 84, 2 f.
 
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