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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0353
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334 Götzen-Dämmerung

definirt beinahe damit das Schlechte. Alles Gute ist Instinkt — und, folglich,
leicht, nothwendig, frei.] Das Wort „Instinkt" ist in N.s Spätwerk sehr häufig
und entfaltet ein breites Bedeutungsspektrum. Freilich benutzt N. schon in
seiner Basler Vorlesung von 1869/70 über lateinische Grammatik den Instinkt-
begriff zur Erklärung von Sprache (KGW II 2, 186, vgl. Hödl 2009, 293). Domi-
nierend ist 1888 die Auffassung, Instinkt als die unbewusste, natürliche Trieb-
kraft von Lebewesen zu verstehen, von der der Mensch unter dem Einfluss von
Sokratik, Platonismus und Christentum mehr und mehr abgeirrt sei (vgl. NK
69, 21 f.).
Einschlägig belesen hat sich N. bei Liebmann 1880, 409-434 (BNP 357,
zahlreiche Lesespuren), der „das Problem des Instincts als Mittel- und Knoten-
punkt der Natur" ansieht (Liebmann 1880, 409). Wichtig ist dabei, dass In-
stinkt keine Konditionierung, keine Reflexion, kein Training voraussetzt; er
kann sowohl „als die niedrigste psychologische Function, aber auch als die
höchste" (ebd., 410) gelten. „Instinct, Tact, Genie kommen darin überein, dass
sie unüberlegt das Richtige und Angemessene fühlen, wollen und thun; sie
bestehen in der Fähigkeit, ohne Vorbedacht, ohne Erfahrung und Einübung,
ohne Reflexion und Prämeditation, ohne Schwanken, Zweifeln und Hin- und
Hererwägen sofort den Nagel auf den Kopf treffen. Instinct verhält sich zur
Dressur, wie Genie und Tact zur Erziehung. Instinct ist Naturgenie, Genie
ästhetischer Instinct." (Ebd. Von N. Unterstrichenes kursiviert; von ihm am
Rand mit Strich und „ja!" markiert.) Die Bedeutungsbandbreite und die darin
angelegte Opposition zu einer einseitigen Rationalitätsbetonung machen das
Schlagwort Instinkt für N. zu einem geeigneten Hammer gegen decadence-Göt-
zen. Es zeigt zugleich die Rehabilitation organischer Natürlichkeit an, die N.
gegen die zivilisatorische Vernunftvergötzung ins Feld führt. Der Begriff des
Instinkts bleibt jedoch auch in N.s wechselhaftem Gebrauch derart unscharf,
dass sich N. alle Türen offen hält, um nicht der rousseauistischen Predigt eines
„Zurück zur Natur" geziehen zu werden. Dabei ist für N. die Liebmann bewe-
gende Frage, wie der Instinkt trotz fehlender bewusster Zwecksetzung schein-
bar Zwecke realisiert, insofern nicht brennend, als er Zwecke und Zweckset-
zung ohnehin für eine sehr problematische Kategorie hält. Eine wichtige
Antwort auf diese Frage hatte sich Liebmann 1880, 426 (vgl. 436) bei Ewald
Hering besorgt: „Instinct ist ein Specialfall des Gattungsgedächt-
nisses." (Von N. Unterstrichenes kursiviert).
Auch Überlegungen Harald Höffdings zum Instinkt weisen Lesespuren N.s
auf und sind für die ethisch-normative Verwendung des Instinktbegriffs beim
späten N. einschlägig: „Der Instinkt unterscheidet sich von der blossen
Reflexbewegung dadurch, dass er einen dunklen Gefühlsdrang, also eine Art
Bewusstsein enthält, obschon kein Bewusstsein von dem eigentlichen Ziel des
 
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