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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0358
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Stellenkommentar GD Irrthümer, KSA 6, S. 91 339

zum „Wortspiel", zur „Fabel" degradiert, denkt kein Ich mehr, auch kein psy-
chologisch restituiertes, vgl. NK 91, 21-23.
Eine Kritik am traditionellen Ich-Begriff konnte N. auch in den von ihm
aber wohl nur oberflächlich konsultierten Beiträgen zur Analyse der Empfindun-
gen von Ernst Mach finden (Mach 1886, 16-20), wo es u. a. im Zusammenhang
mit dem „unanalysirten Ich-Complex" heißt: „Das Ich ist keine unveränderli-
che bestimmte scharf begrenzte Einheit. Nicht auf die Unveränderlichkeit,
nicht auf die bestimmte Unterscheidbarkeit von andern und nicht auf die
scharfe Begrenzung kommt es an, denn alle diese Momente variiren schon im
individuellen Leben von selbst, und deren Veränderung wird vom Individuum
sogar angestrebt. Wichtig ist nur die Continuität. [...] Die Continuität ist aber
nur ein Mittel den Inhalt des Ich vorzubereiten und zu sichern. Dieser Inhalt
und nicht das Ich ist die Hauptsache. Dieser ist aber nicht auf das Individuum
beschränkt. Bis auf geringfügige werthlose persönliche Erinnerungen bleibt er
auch nach dem Tode des Individuums in andern erhalten. Das Ich ist unrett-
bar. Theils diese Einsicht, theils die Furcht vor derselben, führen zu den ab-
sonderlichsten pessimistischen und optimistischen, religiösen und philoso-
phischen Verkehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psycho-
logischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschliessen kön-
nen. Man wird dann auf das Ich, welches schon während des individuellen
Lebens vielfach variirt, ja im Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschau-
ung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, theilweise
oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen Werth legen. Man wird dann auf
individuelle Unsterblichkeit gern verzichten, und nicht auf das Nebensächliche
mehr Werth legen als auf die Hauptsache. Man wird hierdurch zu einer freieren
und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche Missachtung des fremden
Ich und Ueberschätzung des eigenen ausschliesst." (Mach 1886, 18, Fn. 12; in
späteren Auflagen von Machs Werk erscheint der berühmte Satz „Das Ich ist
unrettbar" in etwas anderem Kontext).
N.s Kritik am Ich fügt sich also in einen breiten zeitgenössischen Diskussi-
onszusammenhang ein, zu dem übrigens auch die französische physiologische
und psychologische Forschung gehört: In der vierten Auflage seiner Beiträgen
zur Analyse der Empfindungen verweist Mach im Zusammenhang mit der Ich-
Kritik anerkennend auf Theodule Ribots Werk Les maladies de la personnalite
(1885), das er 1886 noch nicht gekannt habe, aber seine Auffassungen bestätige
(Mach 1903, 3). N. wiederum liest Ribots Revue philosophique.
91, 11-14 Und wir hatten einen artigen Missbrauch mit jener „Empirie" getrie-
ben, wir hatten die Welt daraufhin geschaffen als eine Ursachen-Welt, als
eine Willens-Welt, als eine Geister-Welt.] N. lässt hier ironisch das Vokabular
Schopenhauers anklingen, der nicht nur von Motiven und Willenswelt spricht,
 
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