Stellenkommentar GD Irrthümer, KSA 6, S. 92 343
durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So weiss jeder aus Erfahrung,
wie schnell der Träumende einen starken an ihn dringenden Ton, zum Beispiel
Glockenläuten, Kanonenschüsse in seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm
hinterdrein erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann
jenen Ton zu erleben meint. — Wie kommt es aber, dass der Geist des Träu-
menden immer so fehl greift, während der selbe Geist im Wachen so nüchtern,
behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass
ihm die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um sofort
an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den Traum, als
sei er Realität, das heisst wir halten unsre Hypothese für völlig erwiesen)." Das
Phänomen der „chronologische[n] Umdrehung" beschäftigt N. 1888
nachhaltig, dass nämlich „die Ursache später ins Bewußtsein tritt, als die Wir-
kung" (NL 1888, KSA 13, 15[90], 458, 22 f., vgl. NL 1885, KSA 11, 39[12], 623 =
KGW IX 2, N VII 2, 186, 18-32).
Zum Thema der Nachträglichkeit bei N. und Freud unter besonderer
Berücksichtigung von 92, 2-16 siehe Large 2005/06, bes. 89-94; zum Traum in
GD Löschenkohl 2009. Thomas Mann adaptiert die Stelle 92, 2-16 u. a. im
Zauberberg, vgl. Crescenzi 2011, 115-118.
92, 7-15 sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vorder-
grund zu treten, — nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als „Sinn". Der Kano-
nenschuss tritt in einer causalen Weise auf, in einer anscheinenden Umkeh-
rung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert
Einzelnheiten, die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss folgt... Was ist gesche-
hen? Die Vorstellungen, welche ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als
Ursache desselben missverstanden.] In W II 7, 38 lautet der Passus: „aber sie
wird endlich als verstanden, als erklärt empfunden -: sie wird einge-
reicht in eine Causalität und gilt damit als erklärt..." (KSA 14, 419).
92, 8 Ursachentrieb] Vgl. NK 93, 13 f.
92, 16-21 Unsre meisten Allgemeingefühle — jede Art Hemmung, Druck, Span-
nung, Explosion im Spiel und Gegenspiel der Organe, wie in Sonderheit der
Zustand des nervus sympathicus — erregen unsern Ursachentrieb: wir wollen
einen Grund haben, uns so und so zu befinden, — uns schlecht zu befinden
oder gut zu befinden.] Diesen Überlegungen liegen zwei Nachlassnotizen von
1884 und 1885 zugrunde: „Man erwäge alle die Nöthe der Gedärme, die krank-
haften Zustände des nervus sympathicus, und des ganzen sensorium com-
mune —: nur der anatomisch Unterrichtete räth dabei auf die rechte Gattung
von Ursachen; jeder Unwissende aber sucht in solchen Schmerzen eine mora-
lische Erklärung und schiebt dem thatsächlichen Anlasse zu Verstimmungen
einen falschen Grund unter, indem er im Umkreis seiner Erlebnisse nach
durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So weiss jeder aus Erfahrung,
wie schnell der Träumende einen starken an ihn dringenden Ton, zum Beispiel
Glockenläuten, Kanonenschüsse in seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm
hinterdrein erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann
jenen Ton zu erleben meint. — Wie kommt es aber, dass der Geist des Träu-
menden immer so fehl greift, während der selbe Geist im Wachen so nüchtern,
behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass
ihm die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um sofort
an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den Traum, als
sei er Realität, das heisst wir halten unsre Hypothese für völlig erwiesen)." Das
Phänomen der „chronologische[n] Umdrehung" beschäftigt N. 1888
nachhaltig, dass nämlich „die Ursache später ins Bewußtsein tritt, als die Wir-
kung" (NL 1888, KSA 13, 15[90], 458, 22 f., vgl. NL 1885, KSA 11, 39[12], 623 =
KGW IX 2, N VII 2, 186, 18-32).
Zum Thema der Nachträglichkeit bei N. und Freud unter besonderer
Berücksichtigung von 92, 2-16 siehe Large 2005/06, bes. 89-94; zum Traum in
GD Löschenkohl 2009. Thomas Mann adaptiert die Stelle 92, 2-16 u. a. im
Zauberberg, vgl. Crescenzi 2011, 115-118.
92, 7-15 sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vorder-
grund zu treten, — nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als „Sinn". Der Kano-
nenschuss tritt in einer causalen Weise auf, in einer anscheinenden Umkeh-
rung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert
Einzelnheiten, die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss folgt... Was ist gesche-
hen? Die Vorstellungen, welche ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als
Ursache desselben missverstanden.] In W II 7, 38 lautet der Passus: „aber sie
wird endlich als verstanden, als erklärt empfunden -: sie wird einge-
reicht in eine Causalität und gilt damit als erklärt..." (KSA 14, 419).
92, 8 Ursachentrieb] Vgl. NK 93, 13 f.
92, 16-21 Unsre meisten Allgemeingefühle — jede Art Hemmung, Druck, Span-
nung, Explosion im Spiel und Gegenspiel der Organe, wie in Sonderheit der
Zustand des nervus sympathicus — erregen unsern Ursachentrieb: wir wollen
einen Grund haben, uns so und so zu befinden, — uns schlecht zu befinden
oder gut zu befinden.] Diesen Überlegungen liegen zwei Nachlassnotizen von
1884 und 1885 zugrunde: „Man erwäge alle die Nöthe der Gedärme, die krank-
haften Zustände des nervus sympathicus, und des ganzen sensorium com-
mune —: nur der anatomisch Unterrichtete räth dabei auf die rechte Gattung
von Ursachen; jeder Unwissende aber sucht in solchen Schmerzen eine mora-
lische Erklärung und schiebt dem thatsächlichen Anlasse zu Verstimmungen
einen falschen Grund unter, indem er im Umkreis seiner Erlebnisse nach