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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0377
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358 Götzen-Dämmerung

Gesetzbuches des Manu — also des hinduistischen Mänava-Dharmasästra
(Manusmriti), einer im 1. vor- oder 1. nachchristlichen Jahrhundert entstande-
nen Schrift zur Verhaltensmaßregelung, die N. Anfang 1888 studiert hat. Wäh-
rend die einschlägigen Nachlassnotizen ein sehr kritisches Bild der bei Manu
intendierten Kasten-Gesellschaft zeichnen — ,,[d]as ist eine Schule der Ver-
dummung [...]. Es fehlt die Natur, die Technik, die Geschichte, die Kunst,
die Wissenschaft" (NL 1888, KSA 13, 14[203], 386, 1-11 = KGW IX 8, W II 5, 13,
13-21) —, sind die einschlägigen Passagen in den zur Publikation vorbereiteten
Werken — neben GD Die „Verbesserer" der Menschheit 3 bis 5 insbesondere
AC 56 und 57 — für Manus „Züchtung" (100, 3) des Lobes voll. Die scheinbar
so vorbehaltlose Positivierung Manus ist strategisch motiviert: Der Zweck ist es,
mittels einer komparativen Methode die vorgeblich krankmachende christliche
„Zähmung" (99, 5) zu delegitimieren (dazu Sommer 1999, ferner Elst 2008).
Die Abschnitte 1 und 5 des Kapitels, die eine narrative Rahmung bieten,
problematisieren moralisches Urteilen überhaupt, indem sie zum einen von
der „Einsicht" ausgehen, „dass es gar keine moralischen Thatsa-
chen giebt" (98, 6-8), zum anderen aber feststellen, dass mit den Maßstä-
ben der jeweils implementierten Moralen selbst gemessen „alle Mittel,
wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, [...] von
Grund aus unmoralisch" (102, 20-22) waren. 98, 6-8 steht nicht nur in
starker Spannung zum „Naturalismus in der Moral" (GD Moral als Widernatur
4, KSA 6, 85, 16 f.), sondern ebenso zum Umstand, dass in GD Die „Verbesse-
rer" der Menschheit 2-4 zwischen der „Zähmung" im Christentum und der
„Züchtung" bei Manu ein moralisches Gefälle inszeniert wird, das die Manu-
Variante der Moral als ,besser' erscheinen lässt. Es wird in diesem Kapitel
also das Funktionieren moralischen Urteilens demonstriert (nämlich etwas für
,besser' zu halten als etwas anderes) und zugleich einleitend gesagt, dass
Moral nur eine „Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine
Missdeutung" (98, 10 f.) sei. Anders gesagt ist Moral immer ein Symptom
eines spezifischen Lebens, dessen Präferenzen es zum Ausdruck bringt. Es gibt
damit keine objektive Warte, von der aus Moral beurteilt werden könnte. Genau
dies zeigt das Kapitel.

Titel
98, 1 Die „Verbesserer" der Menschheit.] In Mp XVI 4 wurde die Überschrift
in „Den Menschen ,verbessern'!" aus „Die Hintergründe der Moral" verändert
(KSA 14, 420).
 
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