Stellenkommentar GD Verbesserer, KSA 6, S. 101-102 371
sierung von Jacolliots Konzept: selbst die Tschandala (das Judentum) hat noch
eine eigene Tschandala (das Christentum). Dann freilich ist der in 101, 28-102,
5 behauptete Gegensatz des Christentums zu einem „arischen" Züchtungsge-
danken zumindest nicht der ursprüngliche, den AC 27 als innerjüdischen Kon-
flikt versteht. In AC 51, KSA 6, 232, 1-2 wiederum sind es die „kranken, verdor-
benen Tschandala-Schichten" im ganzen Römischen Reich, also keineswegs
nur innerhalb des Judentums, die sich dem Christentum zugewandt hätten,
weil es das Schwache und Kranke glorifizierte. Paulus ist nach AC 58, KSA 6,
246, 32-33 „der Fleisch-, der Genie-gewordne Tschandala-Hass gegen Rom,
gegen ,die Welt"'. Die Verschiebung in den Oppositionen ist bezeichnend: Das
Christentum als Tschandala-Religion wird unterschiedlich kontrastiert, um es
in jeder möglichen Hinsicht verächtlich zu machen. Es folgen dann auch die
Verlängerungen in die Gegenwart: „Das Socialisten-Gesindel" läuft als
„Tschandala-Apostel" (AC 57, KSA 6, 244, 25 f.). Manche Notizen im Nachlass
klingen freilich selbstkritischer: „Wir sind Tschandala: und unsere Künstler
und Artisten voran..." (NL 1888, KSA 13, 14[207], 388 = KGW IX 8, W II 5, 10,
38). Zum Zusammenhang von Rasse, Religion und Eugenik in GD Die „Verbes-
serer" der Menschheit 4 siehe Moore 2000, 10-17.
102, 2 das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt] Diesen Aspekt
betont Renan sehr stark, vgl. NK 112, 4.
5
102, 9-11 wir dürfen als obersten Satz hinstellen, dass, um Moral zu machen,
man den unbedingten Willen zum Gegentheil haben muss] Moral ist, wie die
Sperrung unterstreicht, nicht gegeben, sondern wird künstlich erzeugt — offen-
bar im Machtinteresse der „Philosophen und Priester" (102, 16). Das ganze
Kapitel erweist sich damit als Exemplifikation der zu Beginn geäußerten,
moralgenealogischen Feststellung, wonach es keine moralischen Tatsachen
gebe (vgl. NK 98, 6-8). Die Moralproduzenten geraten jedoch in Widerspruch
zu ihrer eigenen Moral, deren Gebote sie bei ihrem Züchtungs- bzw. Zähmungs-
geschäft gerade nicht einhalten.
102, 13-16 Eine kleine und im Grunde bescheidne Thatsache, die der sogenann-
ten pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das
Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit „verbesserten".] Zur
Affinität von Religion und Lüge ausführlich AC 55, KSA 6, 237-239 u. zum
Begriff der „heiligen Lüge" NK KSA 6, 208, 10. Der Begriff der „pia fraus" —
ursprünglich aus Ovid: Metamorphosen IX 711 — , des „frommen Betrugs" oder
sierung von Jacolliots Konzept: selbst die Tschandala (das Judentum) hat noch
eine eigene Tschandala (das Christentum). Dann freilich ist der in 101, 28-102,
5 behauptete Gegensatz des Christentums zu einem „arischen" Züchtungsge-
danken zumindest nicht der ursprüngliche, den AC 27 als innerjüdischen Kon-
flikt versteht. In AC 51, KSA 6, 232, 1-2 wiederum sind es die „kranken, verdor-
benen Tschandala-Schichten" im ganzen Römischen Reich, also keineswegs
nur innerhalb des Judentums, die sich dem Christentum zugewandt hätten,
weil es das Schwache und Kranke glorifizierte. Paulus ist nach AC 58, KSA 6,
246, 32-33 „der Fleisch-, der Genie-gewordne Tschandala-Hass gegen Rom,
gegen ,die Welt"'. Die Verschiebung in den Oppositionen ist bezeichnend: Das
Christentum als Tschandala-Religion wird unterschiedlich kontrastiert, um es
in jeder möglichen Hinsicht verächtlich zu machen. Es folgen dann auch die
Verlängerungen in die Gegenwart: „Das Socialisten-Gesindel" läuft als
„Tschandala-Apostel" (AC 57, KSA 6, 244, 25 f.). Manche Notizen im Nachlass
klingen freilich selbstkritischer: „Wir sind Tschandala: und unsere Künstler
und Artisten voran..." (NL 1888, KSA 13, 14[207], 388 = KGW IX 8, W II 5, 10,
38). Zum Zusammenhang von Rasse, Religion und Eugenik in GD Die „Verbes-
serer" der Menschheit 4 siehe Moore 2000, 10-17.
102, 2 das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt] Diesen Aspekt
betont Renan sehr stark, vgl. NK 112, 4.
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102, 9-11 wir dürfen als obersten Satz hinstellen, dass, um Moral zu machen,
man den unbedingten Willen zum Gegentheil haben muss] Moral ist, wie die
Sperrung unterstreicht, nicht gegeben, sondern wird künstlich erzeugt — offen-
bar im Machtinteresse der „Philosophen und Priester" (102, 16). Das ganze
Kapitel erweist sich damit als Exemplifikation der zu Beginn geäußerten,
moralgenealogischen Feststellung, wonach es keine moralischen Tatsachen
gebe (vgl. NK 98, 6-8). Die Moralproduzenten geraten jedoch in Widerspruch
zu ihrer eigenen Moral, deren Gebote sie bei ihrem Züchtungs- bzw. Zähmungs-
geschäft gerade nicht einhalten.
102, 13-16 Eine kleine und im Grunde bescheidne Thatsache, die der sogenann-
ten pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das
Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit „verbesserten".] Zur
Affinität von Religion und Lüge ausführlich AC 55, KSA 6, 237-239 u. zum
Begriff der „heiligen Lüge" NK KSA 6, 208, 10. Der Begriff der „pia fraus" —
ursprünglich aus Ovid: Metamorphosen IX 711 — , des „frommen Betrugs" oder