380 Götzen-Dämmerung
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105, 6-9 Im Grunde ist es etwas ganz Anderes, das mich erschreckt: wie es
immer mehr mit dem deutschen Ernste, der deutschen Tiefe, der deutschen Lei-
denschaft in geistigen Dingen abwärts geht.] N. nimmt diese „deutsche Lei-
denschaft in geistigen Dingen" für sich selbst demgegenüber gerne in
Anspruch: In EH UB 2, 318, 17 f. bemerkt er, Karl Hillebrand (1875, 291-310 u.
1892, 281-299) habe UB I DS gerade „eine wirkliche Wiederkehr des deut-
schen Ernstes und der deutschen Leidenschaft in geistigen Dingen" attestiert —
also lag es damit schon 1872 im Argen. Hillebrand sah in N.s Schrift freilich
eine Wiederkehr des „Idealismus", „deutscher Humanität" und des „reli-
giöse[n] Gefühl[s]" (Hillebrand 1892, 283) — Formulierungen, mit denen N. sich
1888 gar nicht anfreunden konnte und sie daher in seine neue Terminologie
übersetzte. Vgl. den wörtlichen Auszug aus Hillebrand 1875, 293 in NK KSA 6,
318, 9-18. Von seinen Lesern selbst verlangte N. 1888 in AC Vorwort, KSA 6,
167, 9-11, sie müssten „rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte,
um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten".
105, 16-18 Ich bin seit siebzehn Jahren nicht müde geworden, den entgeisti-
genden Einfluss unsres jetzigen Wissenschafts-Betriebs an's Licht zu stellen.]
D. h. seit GT, ZB, UB I DS und UB II HL. Das Wort „Wissenschaftsbetrieb", das
bei N. (jeweils als „Wissenschafts-Betrieb") nur hier sowie in EH UB 1, KSA 6,
316, 14 f. u. 19 jeweils in polemischer Absicht gebraucht wird, kommt — obwohl
es etwa im Grimmschen Wörterbuch nicht verzeichnet ist — bereits in der ers-
ten Hälfte des 19. Jahrhundert nicht allzu selten vor, und zwar in einem wert-
neutralen Sinn zur Bezeichnung wissenschaftlicher Verrichtungen im Allge-
meinen. Vgl. z. B. Johann Friedrich Heigelins Fremdwörter-Handbuch, wo das
Wort „Praktik" umschrieben wird als „Ausübung, Uebung, Erfahrung, Kunst-,
Gewerbs-, Wissenschaftsbetrieb" (Heigelin 1838, 864). Im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts färbt sich der Begriff jedoch negativ ein. Besonders gut sichtbar
ist das etwa in Richard Mayrs Buch Die philosophische Geschichtsauffassung
der Neuzeit von 1877 (Mayr hat 1896 auch einen Aufsatz über N. geschrieben,
vgl. Kr I, 389), das gegen diejenigen zu Felde zieht, die „vor der Jetztzeit und
dem üblichen Wissenschaftsbetrieb anbetend im Staube liegen" (Mayr 1877,
VI). Mayr sieht sich (wie Lord Bolingbroke) „einem verknöcherten, dabei
selbstzufriedenen Wissenschaftsbetriebe gegenüber" stehen (ebd., 130). Auch
unter Wagnerianern scheint dieser polemische Gebrauch eingebürgert gewesen
zu sein. So schreibt Heinrich von Stein in seiner Rezension zu Graf Gobineaus
Renaissance in den Bayreuther Blättern: „daran, dass Giordano Bruno die Ent-
deckungen des Columbus und Copernikus zum Gegenstände einer Weltan-
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105, 6-9 Im Grunde ist es etwas ganz Anderes, das mich erschreckt: wie es
immer mehr mit dem deutschen Ernste, der deutschen Tiefe, der deutschen Lei-
denschaft in geistigen Dingen abwärts geht.] N. nimmt diese „deutsche Lei-
denschaft in geistigen Dingen" für sich selbst demgegenüber gerne in
Anspruch: In EH UB 2, 318, 17 f. bemerkt er, Karl Hillebrand (1875, 291-310 u.
1892, 281-299) habe UB I DS gerade „eine wirkliche Wiederkehr des deut-
schen Ernstes und der deutschen Leidenschaft in geistigen Dingen" attestiert —
also lag es damit schon 1872 im Argen. Hillebrand sah in N.s Schrift freilich
eine Wiederkehr des „Idealismus", „deutscher Humanität" und des „reli-
giöse[n] Gefühl[s]" (Hillebrand 1892, 283) — Formulierungen, mit denen N. sich
1888 gar nicht anfreunden konnte und sie daher in seine neue Terminologie
übersetzte. Vgl. den wörtlichen Auszug aus Hillebrand 1875, 293 in NK KSA 6,
318, 9-18. Von seinen Lesern selbst verlangte N. 1888 in AC Vorwort, KSA 6,
167, 9-11, sie müssten „rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte,
um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten".
105, 16-18 Ich bin seit siebzehn Jahren nicht müde geworden, den entgeisti-
genden Einfluss unsres jetzigen Wissenschafts-Betriebs an's Licht zu stellen.]
D. h. seit GT, ZB, UB I DS und UB II HL. Das Wort „Wissenschaftsbetrieb", das
bei N. (jeweils als „Wissenschafts-Betrieb") nur hier sowie in EH UB 1, KSA 6,
316, 14 f. u. 19 jeweils in polemischer Absicht gebraucht wird, kommt — obwohl
es etwa im Grimmschen Wörterbuch nicht verzeichnet ist — bereits in der ers-
ten Hälfte des 19. Jahrhundert nicht allzu selten vor, und zwar in einem wert-
neutralen Sinn zur Bezeichnung wissenschaftlicher Verrichtungen im Allge-
meinen. Vgl. z. B. Johann Friedrich Heigelins Fremdwörter-Handbuch, wo das
Wort „Praktik" umschrieben wird als „Ausübung, Uebung, Erfahrung, Kunst-,
Gewerbs-, Wissenschaftsbetrieb" (Heigelin 1838, 864). Im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts färbt sich der Begriff jedoch negativ ein. Besonders gut sichtbar
ist das etwa in Richard Mayrs Buch Die philosophische Geschichtsauffassung
der Neuzeit von 1877 (Mayr hat 1896 auch einen Aufsatz über N. geschrieben,
vgl. Kr I, 389), das gegen diejenigen zu Felde zieht, die „vor der Jetztzeit und
dem üblichen Wissenschaftsbetrieb anbetend im Staube liegen" (Mayr 1877,
VI). Mayr sieht sich (wie Lord Bolingbroke) „einem verknöcherten, dabei
selbstzufriedenen Wissenschaftsbetriebe gegenüber" stehen (ebd., 130). Auch
unter Wagnerianern scheint dieser polemische Gebrauch eingebürgert gewesen
zu sein. So schreibt Heinrich von Stein in seiner Rezension zu Graf Gobineaus
Renaissance in den Bayreuther Blättern: „daran, dass Giordano Bruno die Ent-
deckungen des Columbus und Copernikus zum Gegenstände einer Weltan-