382 Götzen-Dämmerung
6, 327). Dass Gebirgsbewohner „größere praktische Philosophen, als die größ-
ten Epikuräer oder tiefsinnigsten Kantlinge" seien, gibt schon Carl Julius Weber
in seinem Demokritos zu bedenken: „Die heitere Stimmung kann kein Flach-
land gewähren, aber auf einem Berge stehend umfassen wir die Natur, wie das
Kind, das auf einen Stuhl gestiegen ist, um den Vater desto besser umarmen
zu können." ([Weber] 1868, 3, 141; keine Lesespur N.s).
4
106, 12-31 Die Cultur und der Staat — man betrüge sich hierüber nicht — sind
Antagonisten: „Cultur-Staat" ist bloss eine moderne Idee. Das Eine lebt vom
Andern, das Eine gedeiht auf Unkosten des Anderen. Alle grossen Zeiten der
Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war
unpolitisch, selbst antipolitisch. — Goethen gieng das Herz auf bei dem Phä-
nomen Napoleon, — es gieng ihmzubei den „Freiheits-Kriegen"... In demselben
Augenblick, wo Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt Frankreich
als Culturmacht eine veränderte Wichtigkeit. Schon heute ist viel neuer Ernst,
viel neue Leidenschaft des Geistes nach Paris übergesiedelt; die Frage des
Pessimismus zum Beispiel, die Frage Wagner, fast alle psychologischen und artis-
tischen Fragen werden dort unvergleichlich feiner und gründlicher erwogen als
in Deutschland, — die Deutschen sind selbst u nfähig zu dieser Art Ernst. — In
der Geschichte der europäischen Cultur bedeutet die Heraufkunft des „Reichs"
vor allem Eins: eine Verlegung des Schwergewichts. Man weiss es über-
all bereits: in der Hauptsache — und das bleibt die Cultur — kommen die Deut-
schen nicht mehr in Betracht.] Vgl. W II 6, 139 u. 141: „Die Cultur und der Staat
sind Antagonisten: heute nimmt der Staat in Anspruch, über die Fragen der
Cultur mitzureden selbst zu entscheiden, -als ob nicht der Staat nur ein
MittelT -und -ein -sehr -untergeordnetes -Mittel -der -Cultur -wäre^^^
Reiehe^würde -man-nieht -gegen-Einen-Goethe -hingeben! — alle großen Zeiten
der Cultur waren politisch Niedergangs-Zeiten. An sich gibt es gar keine Frage
Heute, wo derStaat das Reich in Anspruch nimmt, über die Fragen der Cultur
mitzureden und selbst zu entscheiden, thut es gut, wieder eine kleine Gegen-
frage zu machen: wie viele ,deutsche Reiche' würde man gegen einen Goethe
hinzahlen? In der Geschichte der Cultur ist das ,Reich' einstweilen ein Unglück:
Europa ist ärmer geworden, seitdem der deutsche Geist endgültig auf ,Geist'
verzichtet hat. — Man weiß etwas davon im Auslande: möchten sich die Deut-
schen hierüber nicht betrügen!" (KSA 14, 421 f.) Zur „Frage des Pessimismus"
in Frankreich vgl. die in NK 115, 28-31 mitgeteilte Notiz zu Guyau aus NL 1884/
85.
6, 327). Dass Gebirgsbewohner „größere praktische Philosophen, als die größ-
ten Epikuräer oder tiefsinnigsten Kantlinge" seien, gibt schon Carl Julius Weber
in seinem Demokritos zu bedenken: „Die heitere Stimmung kann kein Flach-
land gewähren, aber auf einem Berge stehend umfassen wir die Natur, wie das
Kind, das auf einen Stuhl gestiegen ist, um den Vater desto besser umarmen
zu können." ([Weber] 1868, 3, 141; keine Lesespur N.s).
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106, 12-31 Die Cultur und der Staat — man betrüge sich hierüber nicht — sind
Antagonisten: „Cultur-Staat" ist bloss eine moderne Idee. Das Eine lebt vom
Andern, das Eine gedeiht auf Unkosten des Anderen. Alle grossen Zeiten der
Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war
unpolitisch, selbst antipolitisch. — Goethen gieng das Herz auf bei dem Phä-
nomen Napoleon, — es gieng ihmzubei den „Freiheits-Kriegen"... In demselben
Augenblick, wo Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt Frankreich
als Culturmacht eine veränderte Wichtigkeit. Schon heute ist viel neuer Ernst,
viel neue Leidenschaft des Geistes nach Paris übergesiedelt; die Frage des
Pessimismus zum Beispiel, die Frage Wagner, fast alle psychologischen und artis-
tischen Fragen werden dort unvergleichlich feiner und gründlicher erwogen als
in Deutschland, — die Deutschen sind selbst u nfähig zu dieser Art Ernst. — In
der Geschichte der europäischen Cultur bedeutet die Heraufkunft des „Reichs"
vor allem Eins: eine Verlegung des Schwergewichts. Man weiss es über-
all bereits: in der Hauptsache — und das bleibt die Cultur — kommen die Deut-
schen nicht mehr in Betracht.] Vgl. W II 6, 139 u. 141: „Die Cultur und der Staat
sind Antagonisten: heute nimmt der Staat in Anspruch, über die Fragen der
Cultur mitzureden selbst zu entscheiden, -als ob nicht der Staat nur ein
MittelT -und -ein -sehr -untergeordnetes -Mittel -der -Cultur -wäre^^^
Reiehe^würde -man-nieht -gegen-Einen-Goethe -hingeben! — alle großen Zeiten
der Cultur waren politisch Niedergangs-Zeiten. An sich gibt es gar keine Frage
Heute, wo derStaat das Reich in Anspruch nimmt, über die Fragen der Cultur
mitzureden und selbst zu entscheiden, thut es gut, wieder eine kleine Gegen-
frage zu machen: wie viele ,deutsche Reiche' würde man gegen einen Goethe
hinzahlen? In der Geschichte der Cultur ist das ,Reich' einstweilen ein Unglück:
Europa ist ärmer geworden, seitdem der deutsche Geist endgültig auf ,Geist'
verzichtet hat. — Man weiß etwas davon im Auslande: möchten sich die Deut-
schen hierüber nicht betrügen!" (KSA 14, 421 f.) Zur „Frage des Pessimismus"
in Frankreich vgl. die in NK 115, 28-31 mitgeteilte Notiz zu Guyau aus NL 1884/
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