Stellenkommentar GD Deutschen, KSA 6, S. 105-106 383
106, 13 f. „Cultur-Staat" ist bloss eine moderne Idee.) Gegen den „Kulturstaat"
polemisiert N. schon in UB III SE 6, KSA 1, 389, 1 f. und ZB III, KSA 1, 706, 33-
707, 4. In NL 1873/74, KSA 7, 30[7], 733, 10-12 hatte N. eine positive Umprägung
des landläufigen Begriffs (vgl. dazu auch den Quellenauszug in NK 142, 19-21)
immerhin erwogen: „So wäre denn geboten die Gründung eines Kulturstaa-
tes im Gegensatz zu den lügnerischen, die sich jetzt so nennen, als einer
Art von Refugium der Kultur." Auch Jacob Burckhardt, dessen einschlägige
Vorlesungen N. in Basel gehört hat, beurteilte das Verhältnis von „Kultur" und
„Staat" kritisch.
106, 15-17 Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten:
was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst antipolitisch.] NWB
1, 71 f. will „antipolitisch" hier und in einer Vorstufe zu EH Warum ich so weise
bin 3 im Sinne von „antidemokratisch", „antisozialistisch", „antiliberal" und
„pro-aristokratisch" verstanden wissen: „Andrerseits bin ich vielleicht mehr
deutsch, als jetzige Deutsche, blosse Reichsdeutsche es noch zu sein vermöch-
ten, — ich der letzte antipolitische Deutsche." (KSA 14, 472). Im 19. Jahr-
hundert ist der Ausdruck „antipolitisch" insbesondere im theologischen
Sprachgebrauch verbreitet (v. a. bei Schleiermacher, aber auch bei Richard
Rothe), in welcher Abwehrhaltung, illustriert Schaff 1854, 467: „Aber das Chris-
tenthum ist [...] keineswegs un- oder antipolitisch, vielmehr hat es, wie die
Geschichte beweist, mittelbar einen sehr bedeutenden und äußerst wohlthäti-
gen Einfluß auf die Reinigung uud Entwicklung der Staaten geübt und ist zur
Vollendung derselben unentbehrlich."
Zu einem eigentlichen Schlagwort wird der Ausdruck „antipolitisch" im
Gefolge N.s dann in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen — eben-
falls in der Zusammenstellung mit dem schon im Titel programmatischen
„Unpolitischen" (z. B. Mann 1990, 12, 123, 131, 150 u. 519).
106, 17-21 Goethen gieng das Herz auf bei dem Phänomen Napoleon, — es
gieng ihm zu bei den „Freiheits-Kriegen"... In demselben Augenblick, wo
Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt Frankreich als Cultur-
macht eine veränderte Wichtigkeit.] In Viktor Hehns Gedanken über Goethe,
deren ersten Teil N. besaß (NPB 281) und im Frühsommer 1888 las (vgl. NK
KSA 6, 18, 19-19, 14; KSA 14, 403 f. und 765-767, N.s Briefentwurf an Ferdinand
Avenarius, ca. 20. 07. 1888: „das Buch des verfluchten Hehn", KSB 8, Nr. 1065,
S. 359, Z. 9 f.; zu N.s Hehn-Rezeption Müller-Buck 1986, 268-273), findet sich
etwas weniger zugespitzt die Feststellung: „Er [sc. Goethe] ertrug die napoleo-
nische Herrschaft nicht unwilliger, als seine Landsleute von Köln bis Basel,
die dem Kaiser zujubelten, und das Befreiungsjahr 1813 erregte ihn nicht leb-
hafter, als die Deutschen im Süden von Inn bis zur Isar und von da bis zum
106, 13 f. „Cultur-Staat" ist bloss eine moderne Idee.) Gegen den „Kulturstaat"
polemisiert N. schon in UB III SE 6, KSA 1, 389, 1 f. und ZB III, KSA 1, 706, 33-
707, 4. In NL 1873/74, KSA 7, 30[7], 733, 10-12 hatte N. eine positive Umprägung
des landläufigen Begriffs (vgl. dazu auch den Quellenauszug in NK 142, 19-21)
immerhin erwogen: „So wäre denn geboten die Gründung eines Kulturstaa-
tes im Gegensatz zu den lügnerischen, die sich jetzt so nennen, als einer
Art von Refugium der Kultur." Auch Jacob Burckhardt, dessen einschlägige
Vorlesungen N. in Basel gehört hat, beurteilte das Verhältnis von „Kultur" und
„Staat" kritisch.
106, 15-17 Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten:
was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst antipolitisch.] NWB
1, 71 f. will „antipolitisch" hier und in einer Vorstufe zu EH Warum ich so weise
bin 3 im Sinne von „antidemokratisch", „antisozialistisch", „antiliberal" und
„pro-aristokratisch" verstanden wissen: „Andrerseits bin ich vielleicht mehr
deutsch, als jetzige Deutsche, blosse Reichsdeutsche es noch zu sein vermöch-
ten, — ich der letzte antipolitische Deutsche." (KSA 14, 472). Im 19. Jahr-
hundert ist der Ausdruck „antipolitisch" insbesondere im theologischen
Sprachgebrauch verbreitet (v. a. bei Schleiermacher, aber auch bei Richard
Rothe), in welcher Abwehrhaltung, illustriert Schaff 1854, 467: „Aber das Chris-
tenthum ist [...] keineswegs un- oder antipolitisch, vielmehr hat es, wie die
Geschichte beweist, mittelbar einen sehr bedeutenden und äußerst wohlthäti-
gen Einfluß auf die Reinigung uud Entwicklung der Staaten geübt und ist zur
Vollendung derselben unentbehrlich."
Zu einem eigentlichen Schlagwort wird der Ausdruck „antipolitisch" im
Gefolge N.s dann in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen — eben-
falls in der Zusammenstellung mit dem schon im Titel programmatischen
„Unpolitischen" (z. B. Mann 1990, 12, 123, 131, 150 u. 519).
106, 17-21 Goethen gieng das Herz auf bei dem Phänomen Napoleon, — es
gieng ihm zu bei den „Freiheits-Kriegen"... In demselben Augenblick, wo
Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt Frankreich als Cultur-
macht eine veränderte Wichtigkeit.] In Viktor Hehns Gedanken über Goethe,
deren ersten Teil N. besaß (NPB 281) und im Frühsommer 1888 las (vgl. NK
KSA 6, 18, 19-19, 14; KSA 14, 403 f. und 765-767, N.s Briefentwurf an Ferdinand
Avenarius, ca. 20. 07. 1888: „das Buch des verfluchten Hehn", KSB 8, Nr. 1065,
S. 359, Z. 9 f.; zu N.s Hehn-Rezeption Müller-Buck 1986, 268-273), findet sich
etwas weniger zugespitzt die Feststellung: „Er [sc. Goethe] ertrug die napoleo-
nische Herrschaft nicht unwilliger, als seine Landsleute von Köln bis Basel,
die dem Kaiser zujubelten, und das Befreiungsjahr 1813 erregte ihn nicht leb-
hafter, als die Deutschen im Süden von Inn bis zur Isar und von da bis zum