400 Götzen-Dämmerung
N., der die Werke der Brüder Goncourt, insbesondere deren eben im
Erscheinen begriffenes Journal studiert, ist in seinen Buch-Marginalien den
Goncourt gegenüber viel wohlwollender als in seinen gedruckten Verlautba-
rungen (vgl. NH 60). Die öffentliche Absetzung von den Goncourt und von
der mit ihnen assoziierten, psychologisierenden Strömung in der französischen
Literatur ist dabei entschieden taktisch motiviert: N.s eigene Psychologie soll
dort nicht verwechselt werden, wo sich Nähe und Verwechslungsgefahr gerade
aufdrängen („Ihre [sc. Goncourts] Psychologie ist Psychophysik." — Brandes
1887b, 155).
Die Charakterisierung des Goncourtschen Stils in GD Streifzüge eines
Unzeitgemässen 7 ist deutlich inspiriert von der zeitgenössischen, von N. eifrig
rezipierten Literaturkritik, siehe z. B. Brandes 1887b, 162: „Die Periodenform,
der Satzbau ist aufgelöst". Oder ebd., 164: „Es ist unmöglich, diese elementa-
ren Regeln der Composition vornehmer, gleichgültiger zu vernachlässigen."
(Vgl. zu Goncourts Bedürfnis nach dem Pittoresken die von N. markierten Stel-
len bei Bourget 1886, 185 u. 192, Nachweis bei Sommer 2000a, 165, Fn. 422).
N. parallelisiert den dekadenten Stil der Goncourt mit demjenigen Wagners in
WA 7, KSA 6, 28, 7-9: Auflösung einer organisierenden, formgebenden Kraft
und ein Sich-Verlieren in Einzelheiten, lautet die Diagnose. Dass Jules Gon-
court aus Verdruss über ausgebliebene Anerkennung „in eine qualvolle und
hoffnungslose Nervenkrankheit" (Brandes 1887b, 177) gefallen ist, mag in N.s
Augen die Parallele zum rasenden Ajax komplettiert haben. Lemaitre 1887, 102
fragt rhetorisch: „Que diriez-vous d'un Homere qui aurait les sens d'Edmond
de Goncourt?" („Was würden Sie zu einem Homer sagen, der die Sinne von
Edmond de Goncourt hätte?").
111, 15 Musile von Offenbach.] N. erwähnt Jacques Offenbach (1819-1880), den
berühmten Komponisten und Erfinder der Operette, erstmals in NL 1887, KSA 12,
9[12], 344 (korrigiert nach KGW IX 6, W II 1, 131, 34-40), wo es heißt: „Offen-
bach: französische Musik, mit einem Voltaireschen Geist, frei, übermüthig,
mit einem kleinen sardonischen Grinsen, aber hell, feurig(,) geistreich bis zur
Banalität (— er schminkt nicht —) und ohne die mignardise krankhafter
oder blond-wienerischer Sinnlichkeit". Die Urteile im Nachlass sind durchweg
positiv, vgl. z. B. NL 1887, KSA 12, 10[116], 522 (KGW IX 6, W II 2, 60, 10-18);
NL 1888, KSA 13, 16[37], 497; NL 1888, KSA 13, 22[26], 596. NL 1887, KSA 12,
9[53], 361 (korrigiert nach KGW IX 6, W II 1, 103, 2-12) lautet: „die Juden haben
in der Sphäre der Kunst das Genie gestreift, mit H. Heine und Offenbach, die-
sem geistreichsten und übermüthigsten Satyr, der [...] als Musiker zur großen
Tradition hält und für den, der nicht bloß Ohren hat, eine rechte Erlösung von
der gefühlsamen und im Grunde entarteten Musik der deutschen Romantik
ist" (ähnlich auch NL 1888, KSA 13, 18[3], 532). 111, 15 ist die einzige Offenbach-
N., der die Werke der Brüder Goncourt, insbesondere deren eben im
Erscheinen begriffenes Journal studiert, ist in seinen Buch-Marginalien den
Goncourt gegenüber viel wohlwollender als in seinen gedruckten Verlautba-
rungen (vgl. NH 60). Die öffentliche Absetzung von den Goncourt und von
der mit ihnen assoziierten, psychologisierenden Strömung in der französischen
Literatur ist dabei entschieden taktisch motiviert: N.s eigene Psychologie soll
dort nicht verwechselt werden, wo sich Nähe und Verwechslungsgefahr gerade
aufdrängen („Ihre [sc. Goncourts] Psychologie ist Psychophysik." — Brandes
1887b, 155).
Die Charakterisierung des Goncourtschen Stils in GD Streifzüge eines
Unzeitgemässen 7 ist deutlich inspiriert von der zeitgenössischen, von N. eifrig
rezipierten Literaturkritik, siehe z. B. Brandes 1887b, 162: „Die Periodenform,
der Satzbau ist aufgelöst". Oder ebd., 164: „Es ist unmöglich, diese elementa-
ren Regeln der Composition vornehmer, gleichgültiger zu vernachlässigen."
(Vgl. zu Goncourts Bedürfnis nach dem Pittoresken die von N. markierten Stel-
len bei Bourget 1886, 185 u. 192, Nachweis bei Sommer 2000a, 165, Fn. 422).
N. parallelisiert den dekadenten Stil der Goncourt mit demjenigen Wagners in
WA 7, KSA 6, 28, 7-9: Auflösung einer organisierenden, formgebenden Kraft
und ein Sich-Verlieren in Einzelheiten, lautet die Diagnose. Dass Jules Gon-
court aus Verdruss über ausgebliebene Anerkennung „in eine qualvolle und
hoffnungslose Nervenkrankheit" (Brandes 1887b, 177) gefallen ist, mag in N.s
Augen die Parallele zum rasenden Ajax komplettiert haben. Lemaitre 1887, 102
fragt rhetorisch: „Que diriez-vous d'un Homere qui aurait les sens d'Edmond
de Goncourt?" („Was würden Sie zu einem Homer sagen, der die Sinne von
Edmond de Goncourt hätte?").
111, 15 Musile von Offenbach.] N. erwähnt Jacques Offenbach (1819-1880), den
berühmten Komponisten und Erfinder der Operette, erstmals in NL 1887, KSA 12,
9[12], 344 (korrigiert nach KGW IX 6, W II 1, 131, 34-40), wo es heißt: „Offen-
bach: französische Musik, mit einem Voltaireschen Geist, frei, übermüthig,
mit einem kleinen sardonischen Grinsen, aber hell, feurig(,) geistreich bis zur
Banalität (— er schminkt nicht —) und ohne die mignardise krankhafter
oder blond-wienerischer Sinnlichkeit". Die Urteile im Nachlass sind durchweg
positiv, vgl. z. B. NL 1887, KSA 12, 10[116], 522 (KGW IX 6, W II 2, 60, 10-18);
NL 1888, KSA 13, 16[37], 497; NL 1888, KSA 13, 22[26], 596. NL 1887, KSA 12,
9[53], 361 (korrigiert nach KGW IX 6, W II 1, 103, 2-12) lautet: „die Juden haben
in der Sphäre der Kunst das Genie gestreift, mit H. Heine und Offenbach, die-
sem geistreichsten und übermüthigsten Satyr, der [...] als Musiker zur großen
Tradition hält und für den, der nicht bloß Ohren hat, eine rechte Erlösung von
der gefühlsamen und im Grunde entarteten Musik der deutschen Romantik
ist" (ähnlich auch NL 1888, KSA 13, 18[3], 532). 111, 15 ist die einzige Offenbach-