424 Götzen-Dämmerung
überläßt das Durchsieben und Ausdrücken des Erlebten, des ,Falls', der ,Natur'
seinem Instinkt, - das Allgemeine kommt ihm als solches zum Bewußtsein,
nicht das [sic] willkürliche Abstraktion von bestimmten Fällen. Wer es anders
macht, wie die beutegierigen romanciers in Paris, welche gleichsam der Wirk-
lichkeit auflauern und jeden Tag eine Handvoll ,Züge‘ ad acta legen Kuriositä-
ten nach Hause bringen: was wird schließlich daraus? Ein Mosaik besten Falls,
etwas Zusammenaddirtes, Farbenschreiendes, Unruhiges (wie bei den
Freres de Goncourt). - Die ,Natur', im künstlerischen Sinn gesprochen, ist
niemals ,wahr'; sie übertreibt, sie verzerrt, sie läßt Lücken. Das ,Studium nach
der Natur' ist ein Zeichen von Unterwerfung, von Schwäche, eine Art Fatalism,
der eines Künstlers unwürdig ist. Sehen, was ist - das gehört einer spezi-
fisch anderen Art von Geistern zu, den Thatsächlichen, den Feststellern: hat
man diesen Sinn in aller Stärke entwickelt, so ist er antikünstlerisch an
sich. / Die descriptive Musik; der Wirklichkeit es überlassen, zu wir-
ken... Alle diese Art Kunst sind leichter, nachmachbarer; nach ihnen
greifen die Gering-Begabten. Appell an die Instinkte; suggestive Kunst."
Die in dieser Notiz explizit gemachte Nihilismus-Kritik, die mit der Neben-
bemerkung zum Pittoresken bei den Goncourt an Bourget 1886, 166, 185 und
191 f. anschließt (vgl. NK KSA 6, 179, 27-29, ferner NK KSA 6, 28, 7-9), entfällt
in der definitiven Druckversion.
115, 5 f. Keine Colportage-Psychologie treiben!] Meyer 1885-1892, 9, 964 ver-
merkt: „Kolportieren (franz.), hausieren, von Haus zu Haus tragen, auch im
übertragenen Sinn: Nachrichten durch Weitererzählen verbreiten; Kolporteur
(spr.-ör), Hausierer, Tabulettträger; bei uns besonders eine Person, welche
meist im Auftrag von Buchhändlern, Antiquaren etc. Bücher, Zeitungen u. dgl.
zum Verkauf herumträgt oder Subskribenten etc. sammelt; daher Kolportage-
schriften (Kolportageromane etc.)". „Colportage-Psychologie" getrieben zu
haben, ist später ein Vorwurf, den Thomas Mann in seinem Brief vom 05. 12.
1903 an seinen Bruder Heinrich gegen dessen Roman Jagd nach Liebe erhebt,
vgl. Mann 2002, 21, 243. Mann scheint bei seinem Urteil überhaupt im Bann
einer GD-Lektüre gestanden zu haben, vgl. NK 69, 17 f. u. 114, 23 f.
115, 10 „bösen Blick"] Vgl. Meyer 1885-1892, 3, 245: „Böser Blick (böses Auge,
lat. Fascinum, daher Fascination, griech. Baskania, ital. Fascino dei malvagio-
cchi, engl. evil eye), nach altem und weitverbreitetem Aberglauben die gewis-
sen Personen innewohnende Zauberkraft, durch Blicke (oder auch durch damit
verbundene Worte) andre Personen oder fremdes Eigentum zu behexen und
ihnen dadurch zu schaden."
115, 12 Er arbeitet nie „nach der Natur"] Nach KSA 14, 424 übersetzte N. hier
die Formel des französischen Naturalismus, die er beispielsweise im Vorwort
überläßt das Durchsieben und Ausdrücken des Erlebten, des ,Falls', der ,Natur'
seinem Instinkt, - das Allgemeine kommt ihm als solches zum Bewußtsein,
nicht das [sic] willkürliche Abstraktion von bestimmten Fällen. Wer es anders
macht, wie die beutegierigen romanciers in Paris, welche gleichsam der Wirk-
lichkeit auflauern und jeden Tag eine Handvoll ,Züge‘ ad acta legen Kuriositä-
ten nach Hause bringen: was wird schließlich daraus? Ein Mosaik besten Falls,
etwas Zusammenaddirtes, Farbenschreiendes, Unruhiges (wie bei den
Freres de Goncourt). - Die ,Natur', im künstlerischen Sinn gesprochen, ist
niemals ,wahr'; sie übertreibt, sie verzerrt, sie läßt Lücken. Das ,Studium nach
der Natur' ist ein Zeichen von Unterwerfung, von Schwäche, eine Art Fatalism,
der eines Künstlers unwürdig ist. Sehen, was ist - das gehört einer spezi-
fisch anderen Art von Geistern zu, den Thatsächlichen, den Feststellern: hat
man diesen Sinn in aller Stärke entwickelt, so ist er antikünstlerisch an
sich. / Die descriptive Musik; der Wirklichkeit es überlassen, zu wir-
ken... Alle diese Art Kunst sind leichter, nachmachbarer; nach ihnen
greifen die Gering-Begabten. Appell an die Instinkte; suggestive Kunst."
Die in dieser Notiz explizit gemachte Nihilismus-Kritik, die mit der Neben-
bemerkung zum Pittoresken bei den Goncourt an Bourget 1886, 166, 185 und
191 f. anschließt (vgl. NK KSA 6, 179, 27-29, ferner NK KSA 6, 28, 7-9), entfällt
in der definitiven Druckversion.
115, 5 f. Keine Colportage-Psychologie treiben!] Meyer 1885-1892, 9, 964 ver-
merkt: „Kolportieren (franz.), hausieren, von Haus zu Haus tragen, auch im
übertragenen Sinn: Nachrichten durch Weitererzählen verbreiten; Kolporteur
(spr.-ör), Hausierer, Tabulettträger; bei uns besonders eine Person, welche
meist im Auftrag von Buchhändlern, Antiquaren etc. Bücher, Zeitungen u. dgl.
zum Verkauf herumträgt oder Subskribenten etc. sammelt; daher Kolportage-
schriften (Kolportageromane etc.)". „Colportage-Psychologie" getrieben zu
haben, ist später ein Vorwurf, den Thomas Mann in seinem Brief vom 05. 12.
1903 an seinen Bruder Heinrich gegen dessen Roman Jagd nach Liebe erhebt,
vgl. Mann 2002, 21, 243. Mann scheint bei seinem Urteil überhaupt im Bann
einer GD-Lektüre gestanden zu haben, vgl. NK 69, 17 f. u. 114, 23 f.
115, 10 „bösen Blick"] Vgl. Meyer 1885-1892, 3, 245: „Böser Blick (böses Auge,
lat. Fascinum, daher Fascination, griech. Baskania, ital. Fascino dei malvagio-
cchi, engl. evil eye), nach altem und weitverbreitetem Aberglauben die gewis-
sen Personen innewohnende Zauberkraft, durch Blicke (oder auch durch damit
verbundene Worte) andre Personen oder fremdes Eigentum zu behexen und
ihnen dadurch zu schaden."
115, 12 Er arbeitet nie „nach der Natur"] Nach KSA 14, 424 übersetzte N. hier
die Formel des französischen Naturalismus, die er beispielsweise im Vorwort