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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0445
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426 Götzen-Dämmerung

faserung im Detail geht auf Bourgets Stil-Analyse der Brüder Goncourt in den
Nouveaux Essais zurück: „Mais comment rendre perceptible la formation des
habitudes, qui, de nature, est presque imperceptible? Justement au moyen
d'une minutieuse peinture d'etats successifs. C'est pour cela que freres de Gon-
court dechiquettent leurs recits en une serie de petits chapitres dont la juxtapo-
sition montre la ligne totale d'une habitude, comme les pierres d'une mosäi-
que, placees les unes ä cöte des autres, forment les lignes d'un dessin."
(Bourget 1886, 166. Kursiviertes von N. unterstrichen. „Aber wie kann man die
Entstehung von Gewohnheiten wahrnehmbar machen, die von Natur aus fast
nicht wahrnehmbar ist? Genau mit dem Mittel einer minutiösen Malerei sukzes-
siver Zustände. Darum zerfetzen die Brüder Goncourt ihre Erzählungen in eine
Reihe kleiner Kapitel, deren Aneinanderreihung die ganze Linie einer Gewohn-
heit zeigt, wie die Steine eines Mosaiks, die einen neben die anderen gelegt,
die Linien einer Zeichnung formen.") Zu N.s Abgrenzung von den Goncourt
siehe NK 111, 14 f.
Im Fall Wagner sowie im Nachlass, wo er unter Anspielung auf Bourget
1886, 166 auch vom „Mosaik-Effekt" spricht (NL 1887/88, KSA 13, 11[321], 134,
16), nimmt N. Bourgets Stil-Analyse zur Grundlage seiner Kritik an der deca-
dence, die als Zerfasern, als Verlust einer organisierenden Einheit und als
Beunruhigung der Optik charakterisiert wird, vgl. z. B. NK KSA 6, 27, 4-6.
115, 26-28 Die Natur, künstlerisch abgeschätzt, ist kein Modell. Sie übertreibt,
sie verzerrt, sie lässt Lücken. Die Natur ist der Zufall.] Diese Äußerungen wird
man in ihrem kultur- bzw. decadence-kritischen Kontext und nicht so sehr als
Kundgabe von N.s ontologischer Überzeugung lesen. Er hat bekanntlich an
anderer Stelle mit dem Zweck auch den Zufall in der Natur in Abrede gestellt
(FW 109, KSA 3, 468). Der Absatz skizziert die Möglichkeiten einer antinatura-
listischen Ästhetik, die den Künstler zum souveränen Herrn über seinen Stoff
erhebt, anstatt in ihm den Handlanger des Vorgefundenen zu sehen. Die Kritik
der französischen decadence-Literatur gründet wesentlich auf dem Verdacht,
dass sie es nicht zu einer künstlerischen Werk-Einheit bringe, weil sie, statt
sich den Stoff zu unterwerfen, sich ihm unterwerfe. Vgl. auch Herrmann 1887,
7 f., gegen den sich das in 115, 26-28 exponierte Naturverständnis direkt zu
richten scheint: „Der Zufall ist demnach das einzige Uebel, das wir unter /8/
allen Umständen bekämpfen müssen; ja sogar auch dann, wenn es uns nütz-
lich wäre. Der Zufall ist immer schädlich, immer unökonomisch und immer ein
Zeichen primitiver Cultur oder unentwickelter Verhältnisse in einem speciellen
Zweige menschlichen oder Naturschaffens." (Kursiviertes von N. unterstrichen,
Randstrich und Mariginalie an den Seitenrändern, vgl. NK KSA 6, 269, 23 f.).
115, 28-31 Das Studium „nach der Natur" scheint mir ein schlechtes Zeichen:
es verräth Unterwerfung, Schwäche, Fatalismus, — dies Im-Staube-Liegen vor
 
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