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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0476
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Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 122 457

(NL 1885/86, KSA 12, 1[185], 51 = KGW IX 6, N VII 2, 13-20 u. KSA 12, 2[11],
71 = KGW IX 5, W I 8, 270, 20-34). Die Wendung ist übrigens keineswegs eine
Neuprägung N.s; sein Basler Bekannter Johann Heinrich Gelzer hatte sie bei-
spielsweise in seinem Buch über die deutsche Nationalliteratur auf Lessing
angewandt (Gelzer 1858, 332).
122, 13-19 Nichts scheint mir heute seltner als die echte Heuchelei. Mein Ver-
dacht ist gross, dass diesem Gewächs die sanfte Luft unsrer Cultur nicht zuträg-
lich ist. Die Heuchelei gehört in die Zeitalter des starken Glaubens: wo man
selbst nicht bei der Nöthigung, einen andern Glauben zur Schau zu tragen,
von dem Glauben losliess, den man hatte.] Besonders in NL 1884 finden sich
zahlreiche Notate zum Thema Heuchelei / Hypokrisie. Ein Ausgangspunkt die-
ser Überlegungen ist ein Exzerpt in NL 1884, KSA 11, 25[80], 29: „Aus dem
Zeitalter der religiösen Heuchelei sind wir in die Zeit der moralischen Heuche-
lei hinübergegangen. ,Eine der Wohlthaten des represent(atif) gouvernem(ent)
ist genau dies, die Ehrgeizigen zu zwingen, die Maske der Moral und Mensch-
lichkeit vorzunehmen. Aber warum dann sich ereifern über die Geistlichkeit,
welche, so lange sie herrschte, die Civilisation unterstützte mit ganz ähnlichen
Mitteln? — Den Priestern soll man nicht ihren Ehrgeiz vorwerfen, sondern
wollen ohne zu können. Sie täuschen sich über ihre Zeit: darum thun
sie Schaden.'" Das ist — von KSA 14, 699 nicht entschlüsselt — ein Auszug aus
Astolphe Louis Leonor de Custines Le monde comme il est: „Les liberaux sont
singulierement exigeants pour tout ce qui a rapport aux bonnes moeurs, quand
il s'agit de juger les autres, et surtout les hommes qu'ils appellent les anciens
nobles. Cette severite ne tient pas ä une louable delicatesse morale, elle a sa
source dans un amour-propre vigilant, mais sot. Ils prennent pour des offenses
personnelles tous les ecarts des descendants de leurs anciens seigneurs; leur
morale interessee produit une hypocrisie politi-/66/que, aussi perverse et plus
nuisible, dans le siecle oü nous vivons, que l'hypocrisie religieuse, parce
qu'aujourd'hui celle-ci perd le pouvoir presque aussitöt qu'elle l'obtient. On
dira peut-etre, qu'un des bienfaits du gouvernement representatif est precise-
ment de forcer ses ambitieux ä prendre le masque de la morale et de l'huma-
nite. Mais alors pourquoi s'acharner contre la puissance du clerge, qui, tant
qu'elle existait, aidait la civilisation par des moyens absolument semblables?"
(Custine 1835, 2, 65 f. „Die Liberalen sind einzigartig anspruchsvoll bei allem,
was mit den guten Sitten zu tun hat, wenn es darum geht, andere zu verurtei-
len und vor allem diejenigen Menschen, die sie die ehemaligen Vornehmen
nennen. Diese Strenge geht nicht mit einem lobenswerten moralischen Feinge-
fühl einher, sie hat ihre Quelle in einer wachsamen, aber närrischen Eigen-
liebe. Sie fassen alle Ausschweifungen der Nachkommen ihrer ehemaligen Her-
ren als persönliche Beleidigung auf; ihre überbeteiligte Moral schafft eine
 
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