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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0491
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472 Götzen-Dämmerung

anschauliches Bild für den Unterschied zwischen den schönen Seiten eines
Bossuet, Vergil, Homer, Milton und den brillanten Seiten von J.-J. Rousseau,
von Lukan, von Herrn de Chateaubriand. Ein Vorwurf, der noch weiter führt
und der an diese großen professionellen Koloristen gerichtet werden kann, ist,
dass die Absicht, so oft wie möglich zu beeindrucken, den Ideen und Gefühlen
einen Grad von Lebendigkeit und Relief gibt, der nicht natürlich ist.") N.
benutzt also die Formel „l'art pour l'art" schon in seiner Notiz zur Charakteri-
sierung bestimmter Erscheinungen in der Ästhetik, ohne das ein solches „l'art
pour l'art" das ausdrückliche Bekenntnis der beurteilten Künstler (oder das
Urteil der Literaturhistoriker) sein müsste. „L'art pour l'art" wird bei N. so zum
Begriff einer Kunst, die sich aus aller Wirklichkeit und aus aller Verantwortung
für das Leben davonstiehlt.
127, 2-4 Der Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer der Kampf gegen
die moralisirende Tendenz in der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die
Moral.] Zur problematischen Rede von der „immoralite dans l'art" vgl. z. B.
Brunetiere 1884b, 302.
127, 10 f. ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst] Parodie des antiken Sym-
bols der sich in den eigenen Schwanz beißenden Schlange, der Uroboros. Die
Schlange wiederum steht in Za im Horizont des Gedankens von der Ewigen
Wiederkunft des Gleichen (dazu ausführlich Pappas 2004).
127, 21 f. Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben] Vgl. WA 6, KSA 6, 22,
19 f. u. NL 1887/88, KSA 13, 11[415], 194, 10-12 (korrigiert nach KGW IX 7, W II
3, 200, 53-56, im Folgenden ohne durchgestrichene Passagen wiedergegeben):
„Die Kunst und nichts als die Kunst. Sie ist (d)ie große Ermöglicherin des
Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans zum Leben..."
Wie in den Nachlass-Aufzeichnungen deutlich wird, steht dieses Verständnis
von Kunst nicht nur im Banne der physiologisch-psychologischen Betrach-
tungsweise, zu der N. 1888 neigt, sondern stellt sich zugleich als Neudeutung
des in GT niedergelegten Kunstverständnisses dar: „Das Wesentliche an dieser
Conception ist der Begriff der Kunst im Verhältniß zum Leben: sie wird, ebenso
psychologisch als physiologisch, als das große Stimulans aufgefaßt, als das,
was ewig zum Leben, zum ewigen Leben drängt..." (NL 1888, KSA 13, 14[23],
228, 27-30 = KGW IX 8, W II 5, 181, 27-32, ähnlich KSA 13, 14[25], 229, 20-23 =
KGW IX 8, W II 5, 178, 1; KSA 13, 14[26], 230, 13 f = KGW IX 8, W II 5, 178, 40-
42).
NL 1888, KSA 13, 15[10], 409-411 expliziert die medizinische und zugleich
entschieden anti-aristotelische Seite der Stimulans-Konzeption, was die Kunst
in späten Notaten schließlich nicht daran hindert, als Stimulans zugleich wie
bei Schopenhauer „Erlösung" zu bieten (NL 1888, KSA 13, 17[3]1, 521, 18-33).
 
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