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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0494
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Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 127-128 475

im Folgenden zunächst in der ursprünglichen Fassung wiedergegeben): „Mit
Menschen fürlieb nehmen und mit seinem Herzen offenes Haus halten: das
ist liberal, aber nicht vornehm. Man erkennt die Herzen, die der vornehmen
Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern und geschlos-
senen Läden: sie halten ihr Herz leer, in Erwartung von Gästen, mit denen man
nicht fürlieb nimmt..." Dieselbe Passage lautet in der von N. überarbeiteten
Variante (ebd.): „Mit Menschen fürlieb nehmen und mit seinem Herzen offenes
Haus halten: das ist liberal, ist bloß liberal... Man erkennt die Herzen, die der
vornehmen Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern
und geschlossenen Läden: Ihre besten Räume halten sie leer [...]. Warum
doch? - weil sie Gäste erwarten, mit denen man nicht fürlieb nimmt..."

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128, 21-26 Unsre eigentlichen Erlebnisse sind ganz und gar nicht geschwätzig.
Sie könnten sich selbst nicht mittheilen, wenn sie wollten. Das macht, es fehlt
ihnen das Wort. Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus.
In allem Reden liegt ein Gran Verachtung. Die Sprache, scheint es, ist nur für
Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames erfunden.] Ein zentraler Gedanke
von N.s Sprachkritik, der in FW 354, KSA 3, 590-593 noch zu einer Bewusst-
seinstheorie erweitert wird. Die Sprachkritik, wie sie in 128, 21-26 vorgetragen
ist, geht von der Priorität — sowohl zeitlich wie auch in der Wertigkeit — der
„eigentlichen Erlebnisse" aus und konstruiert Sprachkritik damit dualistisch:
Ein Eigentliches, auf das es ankommt, wird von der Sprache verborgen oder
vermittelmäßigt. N.s Sprach- und Sprechvielfalt in GD ließe sich so als Versuch
verstehen, die Sprache durch sich selbst zu überlisten und der Vermittelmäßi-
gung durch immer neue Überraschung zu entgehen, ja durch die Überraschung
den Lesern „eigentliche Erlebnisse" zu bescheren. Das Problem besteht freilich
darin, woher man wissen kann, dass es vorsprachliche „Erlebnisse" gibt und
wie sie beschaffen sind. Das Verhältnis von Mitteilungsdrang und Sprache
befragt N. im Kontext seiner Fere-Lektüren in NL 1888, KSA 13, 14[119], 296,
28-297, 19 (KGW IX 8, W II 5, 100, 38-62). Vgl. zum Thema z. B. auch Nies 1991.
128, 27 f. Aus einer Moral für Taubstumme und andere Philosophen.] Taub-
stumme vulgarisieren sich selbst nicht durch Sprache. Zur Taubstummen-Ana-
logie vgl. auch NL 1888, KSA 13, 14[144], 329, 12-18 (KGW IX 8, W II 5, 62, 30-
38). Ein Modell natürlicher Sprachen und ihrer historischen Entwicklung hat
auch schon Denis Diderot in der Lettre sur les sourds et muets (1751) anhand der
Taubstummheit entwickelt (entsprechende Überlegungen zur Gebärdensprache
 
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