556 Götzen-Dämmerung
wohl gemäß, Ehrfurcht aber nicht [...]. Sich zu fürchten ist leicht, aber
beschwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequem. [...] Die Religion,
welche auf Ehrfurcht vor dem, was über uns ist, beruht, nennen wir die ethni-
sche; es ist die Religion der Völker und die erste glückliche Ablösung von einer
niedern Furcht [...]. Die zweite Religion, die sich auf jene Ehrfurcht gründet,
die wir vor dem haben, was uns gleich ist, nennen wir die philosophische:
denn der Philosoph, der sich in die Mitte stellt, muss alles Höhere zu sich
herab, alles Niedere zu sich heraufziehen, und nur in diesem Mittelzustand
verdient er den Namen des Weisen. Indem er nun das Verhältniß zu Seinesglei-
chen und also zur ganzen Menschheit, das Verhältniß zu allen übrigen irdi-
schen Umgebungen, nothwendigen und zufälligen, durchschaut, lebt er im
kosmischen Sinne allein in der Wahrheit. Nun ist aber von der dritten Religion
zu sprechen, gegründet auf die Ehrfurcht vor dem was unter uns ist; wir nen-
nen sie die christliche, weil sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offen-
bart; es ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte'"
(Goethe 1856a, 18, 186-189).
N., der in AC nicht müde wird, das Christentum als eine dem Untergrund
entstiegene Bewegung derjenigen Menschen, die weit unter ihm sind, zu
brandmarken, hätte sich — freilich mit entgegengesetztem Werturteil — viel-
leicht dazu bereitfinden können, die „Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist",
für charakteristisch christlich zu halten. Die Goethe zugeschriebene „Ehrfurcht
vor allem Thatsächlichen" würde ihn wohl eher auf der zweiten Ebene ansie-
deln, nämlich bei der philosophischen „Ehrfurcht vor dem, was uns gleich
ist". Goethe wird von N. von allem Christlichen möglichst weit abgerückt. Die
Wendung „Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen" erinnert an ein Wort, das der
von N. als preußischer Hofhistoriograph lächerlich gemachte (vgl. EH WA 2,
KSA 6, 359, 3 u. EH WA 3, KSA 6, 361, 33 f.) Heinrich von Treitschke in seiner
Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert auf Hegel münzte: „Er
hegte, obwohl er von der Vernünftigkeit des Wirklichen sprach, wenig Ehr-
furcht vor den Thatsachen" (Treitschke 1885, 719).
152, 18 f. Altruismus] Vgl. NK 133, 23-25.
152, 19 Femininismus] Vgl. NK KSA 6, 303, 19-22.
152, 23-25 So dass Goethe nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz
Europa bloss ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre?] Eine solche
Wehklage über das „Umsonst" einer kulturellen Leistung stimmt AC 59, KSA 6,
247, 21 im Blick auf die durch das Christentum zerstörte „ganze Arbeit der
antiken Welt" an. Freilich klingt eine solche Klage sehr (bewusst?) nach dem
Epigonenbewusstsein der decadents, die N. gerade bekämpft. Dass der „grosse
Mensch" immer „ein Ende sei" und damit also nicht von einer kontinuierlichen
wohl gemäß, Ehrfurcht aber nicht [...]. Sich zu fürchten ist leicht, aber
beschwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequem. [...] Die Religion,
welche auf Ehrfurcht vor dem, was über uns ist, beruht, nennen wir die ethni-
sche; es ist die Religion der Völker und die erste glückliche Ablösung von einer
niedern Furcht [...]. Die zweite Religion, die sich auf jene Ehrfurcht gründet,
die wir vor dem haben, was uns gleich ist, nennen wir die philosophische:
denn der Philosoph, der sich in die Mitte stellt, muss alles Höhere zu sich
herab, alles Niedere zu sich heraufziehen, und nur in diesem Mittelzustand
verdient er den Namen des Weisen. Indem er nun das Verhältniß zu Seinesglei-
chen und also zur ganzen Menschheit, das Verhältniß zu allen übrigen irdi-
schen Umgebungen, nothwendigen und zufälligen, durchschaut, lebt er im
kosmischen Sinne allein in der Wahrheit. Nun ist aber von der dritten Religion
zu sprechen, gegründet auf die Ehrfurcht vor dem was unter uns ist; wir nen-
nen sie die christliche, weil sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offen-
bart; es ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte'"
(Goethe 1856a, 18, 186-189).
N., der in AC nicht müde wird, das Christentum als eine dem Untergrund
entstiegene Bewegung derjenigen Menschen, die weit unter ihm sind, zu
brandmarken, hätte sich — freilich mit entgegengesetztem Werturteil — viel-
leicht dazu bereitfinden können, die „Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist",
für charakteristisch christlich zu halten. Die Goethe zugeschriebene „Ehrfurcht
vor allem Thatsächlichen" würde ihn wohl eher auf der zweiten Ebene ansie-
deln, nämlich bei der philosophischen „Ehrfurcht vor dem, was uns gleich
ist". Goethe wird von N. von allem Christlichen möglichst weit abgerückt. Die
Wendung „Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen" erinnert an ein Wort, das der
von N. als preußischer Hofhistoriograph lächerlich gemachte (vgl. EH WA 2,
KSA 6, 359, 3 u. EH WA 3, KSA 6, 361, 33 f.) Heinrich von Treitschke in seiner
Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert auf Hegel münzte: „Er
hegte, obwohl er von der Vernünftigkeit des Wirklichen sprach, wenig Ehr-
furcht vor den Thatsachen" (Treitschke 1885, 719).
152, 18 f. Altruismus] Vgl. NK 133, 23-25.
152, 19 Femininismus] Vgl. NK KSA 6, 303, 19-22.
152, 23-25 So dass Goethe nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz
Europa bloss ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre?] Eine solche
Wehklage über das „Umsonst" einer kulturellen Leistung stimmt AC 59, KSA 6,
247, 21 im Blick auf die durch das Christentum zerstörte „ganze Arbeit der
antiken Welt" an. Freilich klingt eine solche Klage sehr (bewusst?) nach dem
Epigonenbewusstsein der decadents, die N. gerade bekämpft. Dass der „grosse
Mensch" immer „ein Ende sei" und damit also nicht von einer kontinuierlichen