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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0590
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Stellenkommentar GD Alten, KSA 6, S. 156 571

der Geschichte der großen Pest setzt Thukydides den Zweck auseinander, den
er mit dieser Erzählung zu erreichen denke (II, 47 ff.). ,Andere', sagt er, ,mögen
nach ihrem Dafürhalten von den Ursachen reden, woher diese Krankheit ent-
standen ist, woher sie /181/ so große Gewalt erlangt hat. Ich dagegen will
beschreiben, wie sie gewesen ist, und solche Kennzeichen anführen, daß man,
von ihnen ausgehend, wenn sie künftig wiederkommen sollte, und man ihre
Natur zum Voraus weiß, sie am wenigsten verkennen möge.'" (Roscher 1842,
180 f.).
N. radikalisiert solche Vorgaben der Forschung zu einem kompromisslosen
Realismus, den er Thukydides attestiert. Zugleich tilgt er alle religiösen Züge,
die beispielsweise Roscher bei Thukydides noch finden zu können glaubte.
Dieser hatte auch keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen Platon und Thuky-
dides erkennen können. Analog zu Thukydides sieht N. dann Sallusts Rolle,
vgl. NK 154, 12-19. Zu N.s Adaption der Machtkonzeption bei Thukydides Ott-
mann 1999, 220-226, zur philosophischen Dimension Geuss 2008, ferner Jen-
kins 2011 sowie Mann / Lustila 2011.
156, 20-24 In ihm kommt die Sophisten-Cultur, will sagen die Realis-
ten-Cultur, zu ihrem vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung
inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der
sokratischen Schulen.] Die Frage, wie stark N.s Interesse an den griechischen
Sophisten tatsächlich war, hat eine heftige Forschungsdebatte provoziert
(Brobjer 2001b u. 2005: N.s Interesse schwach; Mann 2003: stark). Mann 2003,
425-428 hält Lange 1887 für die wesentliche Quelle N.s zu den Sophisten im
Jahr 1888 (vgl. Stack 1983, 60-62) und damit auch von 156, 20-24, während
Brobjer 2001b Brochard 1887 favorisiert.
Dem Verhältnis von Thukydides und den Sophisten widmet Roscher 1842,
253-275 ein eigenes Kapitel, das die sophistischen Motivkomplexe „Alles Sein
ist nur ein Werden" (ebd., 254), „Alle Wahrheit ist nur subjectiv gültig" (ebd.,
255) sowie das „Recht des Stärkern" (ebd., 257 bei Kallikles und im Melier-
Dialog bei Thukydides) erörtert. Roscher findet bei den Sophisten und Thuky-
dides durchaus Verwandtes, ohne dass letzterer sich doch auf sophistische
Extremismen eingelassen hätte. Im instruktiven Notat NL 1888, KSA 13, 14[147],
331 f. (KGW IX 8, W II 5, 60, 1-28) über die Sophisten als Realisten wird über-
dies Grote erwähnt, dessen Geschichte Griechenlands N. kannte und besaß.
Dort werden im vierten Band der deutschen Übersetzung die Sophisten als
durchaus ehrenwerte Figuren dargestellt, die erst der „unfreundliche Geist des
Platon" (Grote 1850-1856, 4, 580, Fn. 49) verunglimpft habe. „Diese Män-
ner — welche moderne Schriftsteller als die Sophisten hinstellen und sie als
die moralische Pestilenz ihres Zeitalters anklagen — waren von ihren Vorgän-
gern durch keine bezeichnende oder generische Weise unterschieden. Ihr Beruf
 
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